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„Die Debatte war zu 16% ‚literarisch‘“

Nicole Kaminskis Studie über das Verhältnis der Literaturkritik zur Sprachkritik. Von Joseph Wälzholz


Nicole Kaminski: Literaturkritik ohne Sprachkritik? Theodor Fontane, Karlheinz Deschner, Marcel Reich-Ranicki und Kollegen. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang, 2015. 291 S. (Frankfurter Forschungen zur Kultur- und Sprachwissenschaft, Bd. 20). ISBN: 978-3-631-65884-0. Preis [A] € 58,50.


Murakami war schuld. Oder besser gesagt, der DuMont Verlag hatte etwas recht Kühnes getan. Er hatte Haruki Murakamis zuerst unter dem Titel Gefährliche Geliebte erschienenes Buch nicht aus dem Japanischen, sondern aus dem Englischen ins Deutsche übersetzen lassen, und als der Roman dann im Jahr 2000 im Literarischen Quartett besprochen wurde, flog letzteres auseinander. Sigrid Löffler verdanken wir jenes in der hitzigen Auseinandersetzung geäußerte Bonmot, das Nicole Kaminski für ihre Dissertation als Aufhänger benutzt: Das Buch habe „überhaupt keine Sprache“ (S. 15). Das Zitat zeigt, dass Sigrid Löffler ihr Urteil auf die Bewertung der Sprache gründet. Für Literaturkritiker ist das, wie Kaminski aufzeigt, inzwischen alles andere als selbstverständlich. Aber war früher alles besser?

Kaminski untersucht in ihrer Studie, inwieweit Theater- und Literaturkritiken auch Urteile über die Sprache des besprochenen Werkes aufweisen. Dazu hat sie rund anderthalbtausend Kritiken ausgewertet. Sie schlägt einen sich über mehr als ein Jahrhundert erstreckenden Bogen, beginnt mit Theodor Fontane und Alfred Kerr, setzt ihre Analyse mit der 1999 in der Zeit erschienenen Serie Mein Jahrhundertbuch sowie mit der Debatte um Günter Grass’ Roman Ein weites Feld fort und kommt dann ausführlich auf Marcel Reich-Ranicki zu sprechen. Die Studie wird abgerundet mit der Untersuchung des ersten Jahrgangs der Monatszeitschrift Literaturen und mit einer kurzen Betrachtung der literaturkritischen Tätigkeit Karlheinz Deschners sowie einem Verweis auf das inzwischen weithin vergessene „Hamburger Dogma“ einiger Schriftsteller, die die Literatur nicht revolutioniert haben.

Die Glanzpunkte in Kaminskis Darstellung sind die Kapitel, in denen das Kritikverständnis und der Literaturbegriff der großen Kritiker expliziert werden: Fontane, Kerr, Reich-Ranicki, Deschner. Besonders überzeugend werden die Unterschiede zwischen ihnen herausgearbeitet. Fontanes Theaterkritiken werden erhellend und ausführlich erörtert, und Kaminski weist nach, wie Kerr häufig schwärmt oder auch verreißt, ohne zu analysieren. Sie formuliert hier insgesamt eher zurückhaltend:

„Mit seinen Sprachspielereien demonstriert Kerr – wenn er etwa vom ‚Poe-ethischen Gewissensroman‘ spricht oder August Strindberg als ‚Strindhügel‘ verspottet, wenn dieser hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt, wenn er Sternheims kryptische Sprache als das ‚Sternheimliche‘ bezeichnet oder das ‚Christelnde, Anachronistelnde‘ vieler russischer Stücke bemängelt – die eigene Sprachphantasie. Kerr geht so weit, dass er in einer Kritik zu Shaws ‚Androklos‘ freimütig bekennt: ‚Wertvoll ist mir bloß, was ich dabei gedacht habe. Das hat mit Shaw nichts zu tun – man nutzt den Anlaß es zu sagen.‘ […] Einen seiner Ansicht nach völlig misslungenen Hofmannsthal-Vers zitiert er und kommentiert: ‚Es ist eine Kette von Beleidigungen, sie braucht nicht analysiert zu werden.‘“ (S. 108-110)

Tatsächlich wäre es die leichtere Aufgabe gewesen, eine durchgehende Linie von Fontane über Tucholsky, für den Fontane ein stilistisches Vorbild war, bis hin zu Reich-Ranicki aufzuzeigen. Umso bemerkenswerter ist es, wie Kaminski, ohne es so zu nennen, den phänomenalen Irrtum Fontanes analysiert, der den stets nah an der Schwachköpfigkeit entlangschreibenden Kerr für seinen  würdigen Erben hielt.

Ein besonderes Verdienst Kaminskis ist es, Karlheinz Deschner, der der Öffentlichkeit heutzutage vor allem als Kirchenkritiker oder Kirchenfeind ein Begriff ist, wieder als Literaturkritiker in Erinnerung gerufen zu haben. Man wünschte sich, dass das Kapitel über Deschner noch länger ausgefallen wäre; seine Berufung auf Herder und insbesondere seine polemischen Intentionen werden leider nur gestreift, aber nicht eigentlich gewürdigt.

Nach den literaturkritischen Maßgaben befragt, hat sich Reich-Ranicki des Öfteren auf Fontane berufen, ihn gelegentlich sogar aus dem Kopf zitiert, wie in der vom Südwestrundfunk am 27. August 1989 ausgestrahlten IFA-Talkshow:

„Ich habe keine Normen, keine konstanten Kriterien, mit deren Hilfe ich Literatur beurteilen kann. Fontane hat gesagt: ‚Nicht Paragraphen und nicht ein Kodex sitzt hier zu Gericht, sondern mein‘ – sagt Fontane – ‚Gefühl‘. Natürlich nicht nur Gefühl bei Fontane, und Intelligenz und Erfahrung und Bildung, alles zusammen. Aber: Der Kritiker urteilt mit seinem ganzen Erlebnisvorrat auf ein bestimmtes literarisches Phänomen. Die Kriterien zur Beurteilung des Phänomens muss er aus dem zur Debatte stehenden Werk ableiten ... Deswegen bleibt die Antwort auf die Frage nach den Kriterien immer unbefriedigend. Wirkliche Kriterien haben Leute, Kritiker, die an eine Ästhetik glauben, eine marxistische, eine freudianische, eine linguistische, an irgendeine Ästhetik. Nur: Einen solchen Kritiker kenne ich heute nicht mehr.“

Mit großem Witz charakterisiert Kaminski Reich-Ranicki, indem sie mehrere Jahrzehnte seiner literaturkritischen Tätigkeit auf den Nenner bringt: „Sehr differenziert waren die Äußerungen zur Sprachkritik auch in den Rezensionen von 1960-1992 nicht“ (S. 162), oder indem sie klarmacht: „Er schätzt vor allem unpoetische Poesie“ (S. 181). Ihre Dissertation ist recht kurzweilig geschrieben, selbst die Auswertung des umfangreichen statistischen Materials wird nicht trocken ausgebreitet, sondern mit durchgehend hervorragend ausgewählten Zitaten durchsetzt.

Es ist überaus lehrreich zu lesen, wie Kaminski Reich-Ranickis Urteile über Grass hintereinanderschaltet. 1963 schreibt er in einer Rezension der Blechtrommel, Grass’ Diktion sei „drall und prall, saftig und deftig“ (S. 160). 1979 schreibt er in einer Rezension der Erzählung Das Treffen in Telgte, Grass formuliere „drall und prall, kräftig und deftig, üppig und saftig“ (S. 161). Und in einer Rezension der 1992 erschienenen „Unkenrufe“ notiert Reich-Ranicki, Grass’ Deutsch sei „saftig und deftig“ (S. 161). Selten bekommt man so deutlich vor Augen geführt, wie Literaturkritiker sich auf ein Urteil versteifen können – wobei Reich-Ranicki ohnehin den Typus eines Kritikers verkörperte, an dem nicht sein Urteil interessierte, sondern die Apodiktizität, mit der es jeweils vorgetragen wurde. (Wie egal es war, was Reich-Ranicki schrieb, wurde vollends deutlich, als er in der FAS-Rubrik „Fragen Sie Reich-Ranicki“ 2006 über Tschechow dozierte: „Er war kein Besessener wie Dostojewskij, kein Prediger wie Tolstoi.“ In derselben Rubrik schrieb er 2010, ebenfalls über Tschechow: „Er war ein Besessener wie Dostojewskij, kein Prediger wie Tolstoi.“)

Über Grass’ Roman Ein weites Feld berichtet Kaminski ironisch: „Auch die BILD-Zeitung entschied: ‚Schreiben kann er.‘“ (S. 151) Ebenfalls im Kapitel über die Debatte um Grass’ Roman rückt sie sogar bloße Schätzungen zurecht: „Wenn der Schriftsteller Harry Mulisch anprangert: ‚Diese Kampagne ist höchstens zu 30 Prozent literarisch. Der Rest ist Politik‘, ist das noch untertrieben. Unter den 232 in dieser Arbeit ausgewerteten Artikeln befanden sich nur 38 Rezensionen; die Debatte war in diesem Sinne nur zu 16% ‚literarisch‘.“ So problematisch derartige Genrerechnungen auch sind und so sehr in ihnen untergründig noch Ironie mitzuschwingen scheint – tatsächlich sind sie ein gewichtiges Indiz dafür, dass die Literaturkritik sich bisweilen politisch stark instrumentalisieren lässt, wie Kaminski hier anhand der Grass-Debatte darlegt.

Einige Punkte in Kaminskis Studie sind allerdings schwer nachvollziehbar. Schon der Titel ist zwar eingängig, allerdings wäre hier mehr Genauigkeit angebracht gewesen. Wenn die Forschungsfrage lautet: „Literaturkritik ohne Sprachkritik?“, dann lautet die wenig überraschende Antwort: Manchmal ja, manchmal nein. Ein bestimmter Vorwurf zieht sich durch die gesamte Dissertation hindurch: dass literaturkritische Urteile über die Sprache für die Leser oft nicht nachvollziehbar seien, weil in den Rezensionen auf Zitate aus den rezensierten Werken verzichtet wird. Dieser Vorwurf ist problematisch, und zwar nicht nur aus den in der Studie erwähnten Platzgründen, die es in Zeitungen eben gibt. Schließlich kann auch eine deskriptive Kritik ein Zitat ersetzen – inwieweit eine solche Kritik dann geglückt ist, hängt von der Fähigkeit der Kritiker (und vielleicht auch vom Rezeptionsvermögen der Leser) ab; aber das ist ja immer so.

Kaminski hat die „ausgewählten Theater- und Literaturkritiken […] in lediglich vier Kategorien eingeteilt, um eine eindeutige Zuordnung und Vergleichbarkeit zu gewährleisten“ (S. 21). Diese Kategorien sind: 1. detaillierte Sprachanalysen; 2. undeutliche Urteile; 3. kurze Urteile;  4. nichtsprachliche Kriterien. Das Problem ist nicht, dass dieses Raster grob ist. Das Problem ist, dass „kurze Sprachurteile“ stets im Verhältnis zur Gesamtlänge der jeweiligen Rezension beurteilt werden müssten und dass Kaminski, was die zweite Kategorie anbelangt, einem groben Missverständnis unterliegt. Die zitierten Urteile sind in der Regel nicht „undeutlich“, sondern sie lassen, ganz im Gegenteil, an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. So wird etwa die Kritik, Wellershoff lande „in den Gefilden des puren und zugleich nebelhaften Geschwafels“ (S. 172), den undeutlichen Urteilen zugeschlagen. Was ist daran undeutlich? Gemeint ist tatsächlich etwas völlig anderes: Die Urteile sind unbelegt, d.h. nicht durch ein Zitat gestützt. Kaminski widerspricht sich selbst, wenn sie über sogenannte „undeutliche Urteile“ schreibt, man erhalte aus ihnen „einen Eindruck davon, ob der Kritiker die Sprache positiv oder negativ bewertet“ (S. 32).

Etwas überraschend ist auch, dass, wer sich so lange mit Literaturkritikern beschäftigt hat, nicht ein wenig mehr Rücksicht nimmt auf ihre berüchtigte Empfindlichkeit, da sie es doch nie gerne sehen, wenn ihre Namen falsch geschrieben werden: Jörg Magenau heißt nicht „Jörg Magentau“ (S. 147), Andreas Isenschmid heißt nicht „Andreas Isenschmidt“ (S. 148) und Karl Heinz Bohrer heißt nicht „Karl-Heinz Bohrer“ (S. 186). –  Eines der Resümees lautet: „Der Anspruch, unumstößliche, zeitlos gültige Urteile über die Sprachqualität literarischer Werke fällen zu können, lässt sich […] nicht aufrechterhalten“ (S. 240). Freilich gibt es praktisch niemanden, der diesen Anspruch erhebt.

Fazit: Nicole Kaminski schlägt in ihrer Studie über das Verhältnis der Literaturkritik zu Sprachkritik einen Bogen von Theodor Fontane über Alfred Kerr und Karlheinz Deschner bis hin zu Marcel Reich-Ranicki. Die Kriterien ihrer Analyse sind zwar im Einzelnen zu hinterfragen, die angestellten Beobachtungen jedoch sind anregend und aufschlussreich.


Joseph Wälzholz, 27.04.2015
joseph.waelzholz@gmail.com