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„Die Fackel“ als Revolverblatt, oder: Der Roman Schollwitz

80 Jahre nach dem Tod des Autors hat Erhard Schütz Stefan Großmanns nachgelassenen Presse-Roman „Wir können warten“ ediert. Von Michael Pilz


Stefan Großmann: Wir können warten, oder Der Roman Ullstein. Hrsg. von Erhard Schütz. Berlin: VBB Verl. für Berlin-Brandenburg, 2014. 384 S. ISBN 978-3-945256-02-2. Preis [A]: € 23,60.

Am 3. Januar 2015 sind es 80 Jahre her, dass der Schriftsteller und Kritiker Stefan Großmann – noch nicht sechzigjährig und von den Nationalsozialisten aus seinem langjährigen Wirkungsort Berlin vertrieben – in seiner Geburtsstadt Wien gestorben ist. In den 1920er Jahren zählte Großmann zu den herausragenden links-demokratischen Publizisten und Feuilletonisten der Weimarer Republik, die das intellektuelle Profil der „Zeitungsstadt Berlin“ (Peter de Mendelssohn) maßgeblich mitgeprägt haben. Und wie Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky oder Siegfried Jacobsohn, deren Schaffen bis heute aufs engste mit dem medialen Ort der Weltbühne verbunden ist, ist auch der Name Großmanns fest mit einem Zeitschriftentitel verknüpft: dem Tage-Buch, jener anderen wichtigen Wochenschrift linksliberaler Ausrichtung im Deutschland der Zwischenkriegszeit, die Großmann nach vorangegangenen Tätigkeiten für die Wiener Arbeiter-Zeitung sowie das Feuilleton der Vossischen Zeitung zusammen mit dem Verleger Ernst Rowohlt 1920 ins Leben gerufen und in den ersten sechs Jahren ihres Erscheinens als Herausgeber geprägt hatte.

Überblickt man die Forschung zur Zeitschriften- und Pressegeschichte der Weimarer Republik, fällt allerdings auf, dass Das Tage-Buch (zumindest, was seine „klassischen“ Jahre vor der Weiterführung im Exil durch Leopold Schwarzschild unter dem Titel Das Neue Tage-Buch betrifft) immer ein wenig im Schatten der Weltbühne gestanden ist – und bis heute steht. Während inzwischen zahlreiche monographische Darstellungen über das ältere Konkurrenzblatt und seinen illustren Mitarbeiterkreis vorliegen, ist es für Das Tage-Buch bislang noch bei jenem schmalen „Porträt einer Zeitschrift“ geblieben, das Fritz J. Raddatz im Jahr 1981 als Begleitband zum Reprint des Blattes im Athenäum-Verlag verfasst hat. Dass selbst dieser Nachdruck im Gegensatz zur vollständigen Faksimile-Ausgabe der Weltbühne, die derselbe Verlag kurze Zeit vorher vorgelegt hatte, ein Torso geblieben und über die ersten sechs Jahrgänge nicht hinausgekommen ist, scheint durchaus bezeichnend. Immerhin wurden damit aber genau jene Bände wieder greifbar gemacht, deren Originale seinerzeit noch unter der Ägide des Gründungsherausgebers Großmann erschienen sind.[1]

Gesteigertes Interesse an Stefan Großmann freilich hat auch dieses Nachdruckunternehmen nicht recht zu wecken vermocht, von weiterführendem verlegerischem Engagement ganz zu schweigen: Was für die etwas stiefmütterliche Behandlung durch die Forschung in Hinblick auf seine Zeitschrift gilt, trifft in noch stärkerem Maße auch für sein eigenes literarisches und journalistisches Gesamtwerk zu. Während inzwischen die Texte selbst kleinerer „Weltbühnisten“ wie Hans Reimann in mehrbändigen Ausgaben ediert worden sind – von den opulenten Werkausgaben, die für Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky, aber auch für Siegfried Jacobsohn vorliegen, einmal ganz abgesehen – sieht es für Stefan Großmann noch immer recht düster aus. Ein ebenso verdienstvoller wie einsamer Auswahlband mit kleiner Prosa, den Traugott Krischke vor einem Vierteljahrhundert bei Kremayr & Scheriau herausgegeben hat, ist längst vergriffen, und das 2001 vom Verlag Komplett-Media in der Reihe Club der verbannten Dichter vorgelegte Stefan-Großmann-Lesebuch, bei dem es sich eigentlich um ein von Achim Höppner eingesprochenes Vorlesebuch von immerhin 180 Minuten Länge handelt, hatte seinerzeit noch nicht einmal den medialen Sprung von der Toncassette zur CD mitvollzogen, was seiner aktuellen Rezeption nicht gerade förderlich sein dürfte. Lediglich Großmanns Autobiographie, die er 1930 als Mittfünfziger unter dem ironischen Titel Ich war begeistert bei S. Fischer veröffentlicht hatte, ist (durchaus zu Recht) immer wieder neu aufgelegt worden: 1979 mit einem Nachwort von Carel ter Haar, 2009 in der Reihe Bibliothek Bücherverbrennung und zuletzt 2011 in der Wiener Edition Atelier, herausgegeben von Alexander Kluy und mit einem Vorwort von Hermann Schlösser versehen. Dass der kritische Journalist, Zeitschriftenherausgeber und Memoirenschreiber Großmann daneben auch als Dramatiker und als produktiver Erzähler mit zahlreichen Novellen und Romanen hervorgetreten ist, ist demgegenüber aus der Wahrnehmung einer literarisch interessierten Öffentlichkeit weitestgehend verdrängt worden. Insbesondere sein auch zeithistorisch interessantes Schauspiel Die beiden Adler (über den Gründervater der österreichischen Sozialdemokratie, Victor Adler, seinen Sohn Friedrich Adler und dessen Schussattentat auf den österreichischen Ministerpräsidenten Graf Stürgkh im Ersten Weltkrieg) sowie die beiden Zeitromane Die Partei von 1919 (eine nicht zufällig im Revolutionsjahr veröffentlichte Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie) und Chefredakteur Roth führt Krieg von 1928 (Großmanns erster Journalisten-Roman) sind gründlich in Vergessenheit geraten.

Wenn nun rechtzeitig zum Gedenken an Stefan Großmanns 80. Todestag mit der Herausgabe eines seiner umfangreicheren Erzähltexte unter dem Titel Wir können warten wieder explizit an den Romancier Großmann erinnert wird, ist das mithin nur zu begrüßen – und zwar umso mehr, als es sich dabei um eine echte Entdeckung handelt: Der von Erhard Schütz herausgegebene, mit einem kundigen Vorwort versehene und behutsam eingerichtete Text ist nicht etwa eine Neu-, sondern eine regelrechte Erstausgabe, die auf einem bis dato noch unpublizierten Typoskript aus Großmanns Nachlass im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien beruht. Bislang war der Inhalt des Romans nur in einer knapp orientierenden Zusammenfassung bekannt, die Christian Jäger in einem Aufsatz für die Schriftenreihe des Österreichischen Literaturarchivs gegeben und mit ersten erhellenden „Rekonstruktionen“ über die zeithistorischen Bezüge versehen hatte.[2] Über die Überlieferungssituation hatte Jäger seinerzeit vermerkt:

In den dreißiger Jahren und augenscheinlich über einen längeren Zeitraum hinweg schreibt er [Großmann] an einem Roman, der in Mappen abgelegt wurde, die zum einen die Aufschrift Wir können warten, zum anderen die Aufschrift Roman Ullstein tragen. Schon daß zwei Mappen vorhanden sind, deutet auf zwei unterschiedliche Anliegen hin, die, geht man von den Aufschriften aus, einerseits einen politischen Durchhalteroman, andererseits einen Schlüsselroman über das Berliner Zeitungsgeschäft am Beispiel des Ullstein Verlages in Aussicht stellen.[3]

Jäger benennt damit schon das zentrale Dilemma des Romans auch in der jetzt edierten Gestalt,  die eigentlich keinen Zweifel daran lässt, dass Großmann den Text – ohne die Gelegenheit, das Manuskript vor seinem Tod noch einmal einer gründlichen Durch- oder gar Umarbeitung zu unterziehen – zumindest in der vorliegenden Form überhaupt nicht veröffentlicht hätte. Obwohl die Story zu Ende erzählt ist und keineswegs unvermittelt abbricht, haftet dem Ganzen notgedrungen etwas Fragmentarisches und bisweilen Widersprüchliches an. Ein vollendetes Ganzes hat der Leser also nicht zu erwarten, zumal auch zahlreiche Unstimmigkeiten in den Details der Personenzeichnung, der Chronologie und der Handlungsführung stehengeblieben sind, die sich nur durch erklärende Fußnoten des Herausgebers wenn auch nicht auflösen, so doch immerhin offenlegen lassen. Die Frage nach der Legitimität einer solchen Veröffentlichung eines schlichtweg unfertigen Textes nicht etwa im Rahmen einer historisch-kritischen Ausgabe, sondern vielmehr für ein breiteres Lesepublikum – an das sich die erklärtermaßen auf allzu großen philologischen Ballast verzichtende Edition mit entsprechenden Konzessionen zugunsten des „Leseflusses“ wendet –, scheint also durchaus berechtigt; vor allem auch, wenn man die zahlreichen ‚fertigen‘ Publikationen Stefan Großmanns in Betracht zieht, die bis heute im Status der Verschollenheit belassen wurden. Kurz gefragt: Wieso ist aus Großmanns Texten ausgerechnet dieser Roman ausgewählt worden, um im Jahr 2014 auf den Buchmarkt zu kommen?

Zur Beantwortung dieser Frage lohnt es sich allemal, das ausführliche Vorwort des Herausgebers Erhard Schütz zu lesen – und zwar tatsächlich in der Reihenfolge, die die paratextuelle Struktur des Buches vorgibt, also vor Lektüre des eigentlichen Romans und nicht etwa hinterher, da erst die mit der nötigen Expertise gegebene Einführung in Thema und Gegenstand des Romans den Leser für ein adäquates Verständnis des Buches vorbereitet. Dazu gehört zuallererst die Aufschlüsselung der zeithistorischen Bezüge, die die Geschichte der sechs Kronstein-Brüder (wie sie bei Großmann heißen) auf die realen Geschehnisse um die fünf Gebrüder Ullstein und ihres berühmten Verlagskonzerns in der Endphase der Weimarer Republik rückprojiziert – hausinterne Machtkämpfe und persönliche Intrigen wie die verleumderischen Querelen um die Liebesbeziehung des alternden Verlagschefs Friedrich Kronstein zu der jungen, emanzipierten und journalistisch ambitionierten Kunsthistorikerin Dr. Evelyn Goldscheider inbegriffen, die über weite Strecken die erste Hälfte des Romans dominiert. Dass dem Ganzen die realen Vorfälle um die Heirat zwischen Franz Ullstein und einer gewissen Dr. Rosie Gräfenberg einerseits sowie die Entmachtung des langjährigen Chefredakteurs von Ullsteins intellektuellem Traditionsblatt, der Vossischen Zeitung, andererseits zugrundeliegen, erschließt sich freilich erst durch die einleitenden Rekontextualisierungen des Herausgebers, sofern der heutige Leser nicht von vornherein schon mit dem nötigen Expertenwissen um die Interna der Ullstein’schen Verlagsgeschichte ausgestattet ist. Dem zeitgenössischen Leser der frühen 1930er Jahre (so es ihn denn gegeben hätte) dürften diese Interna freilich weitestgehend bekannt gewesen sein – notabene aus der Presse selbst, die denn auch die eigentliche Hauptfigur des Romans bildet und seine Bedeutung als Zeitdokument untermauert: Was hier vorgelegt wird, ist ein bis heute zumindest partiell aktualisierbarer Roman über Macht und Ohnmacht der meinungsbildenden Massenmedien (und ihrer Macher) im Spannungsfeld von Ökonomie, journalistischer Verantwortung und politischem Kalkül.

Bei der Geschichte vom Kampf ums Recht der aus durchsichtigen Gründen unschuldigerweise der Doppelspionage verdächtigten und von der medialen Öffentlichkeit gehetzten Evelyn Goldscheider, für die sich schließlich so unterschiedliche Charaktere wie der Staatssekretär von Schollwitz, die Sekretärin Ruth Berger oder der Rechtsanwalt Sinzheimer einsetzen und zur Beibringung entlastender Dokumente sogar bis nach Paris reisen, mag man vielleicht entfernt an den zentralen Handlungsstrang von Lion Feuchtwangers opulentem Roman Erfolg aus dem Jahr 1930 denken – auch er ein Schlüsselroman über die Bedrohung der Weimarer Demokratie von rechts, wenngleich mit weitaus größerem Atem und mit dem Anspruch erzählt, einen repräsentativen Querschnitt durch die Gesellschaft der ‚ungeliebten Republik‘ zu erstellen, der bei Großmann allenfalls in Ansätzen gegeben ist. Während bei Feuchtwanger mit der Benennung von nationalistischen Hetzblättern wie dem Miesbacher Anzeiger zudem die medialen Frontlinien erwartbar klar abgesteckt werden, stolpert der Leser bei Großmann unvermittelt über den durchaus unerwarteten, gleichwohl keineswegs zufällig gewählten, sondern über mehrere Seiten hinweg geradezu ostentativ wiederholten Titel des Revolverblattes, das die Hetzkampagne gegen Evelyn Goldscheider und Friedrich Kronstein um der eigenen Auflage willen forciert: „Die Fackel“, die in Großmanns Roman explizit als ein mit Dreck werfendes „Skandalblatt“ (S. 129) und „Klatschblatt“ (S. 137) charakterisiert wird, bedient sich nämlich genau jener journalistischen Praktiken, gegen die der Herausgeber und alleinige Verfasser der realen Fackel aus Wien mit seiner gnadenlosen Pressekritik unermüdlich angeschrieben hatte. Wendungen wie: „das unangenehme Blatt, es hieß ‚Fackel‘“ (S. 128), „Was ist die ‚Fackel‘?“ – „Niederträchtig“ (S. 129) oder „Du redest wie ein Schmutzfink der ‚Fackel‘“ (S. 133) sind durchaus mehr als nur ironische Marginalien in einem der Berliner Großstadtpresse gewidmeten Roman aus der Feder eines Publizisten, der selbst als Ullstein-Autor und langjähriger Feuilletonredakteur der Vossischen Zeitung tätig gewesen war und somit aus der Sicht eines Karl Kraus nachgerade zwangsläufig unter die Repräsentanten des verhassten journalistischen Pressebetriebs eingereiht werden musste. Insofern mag es kaum verwundern, dass Großmann wie zahllose andere renommierte Kollegen auch namentlich immer wieder ins Visier der realen Fackel geraten war – zuletzt aufgrund seiner im Wiener Morgen formulierten Kritik an Kraus’ anfänglichem Schweigen zu den politischen Ereignissen im Deutschland des Jahres 1933.[4] Großmanns letzter Roman, den Kraus nie zu Gesicht bekommen sollte, lässt sich vor diesem Hintergrund zugleich als Dokument eines Positionierungskampfes innerhalb des intellektuellen Feldes lesen, der um die Formulierung und Legitimierung einer angemessenen Pressekritik in Zeiten der politischen Krise geführt wurde (und dies noch zu einer Zeit, als zumindest innerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs solche Diskussionen längst abgewürgt worden waren).

Die zu gängigen Wertungsmustern denkbar quer stehende Erwähnung der „Fackel“ in Großmanns Roman freilich ist nicht der einzige Punkt, an dem der heutige Leser stutzen dürfte. Ein anderer ist die Rolle, die der bereits erwähnte national-konservative Staatssekretär von Schollwitz im Verlauf der Handlung zu spielen beginnt, in deren zweiter Hälfte er nämlich nicht nur zum unvermuteten Sympathieträger, sondern zur eigentlichen, utopische Hoffnung spendenden Hauptfigur avanciert. Die Wandlung setzt in dem Moment ein, in dem die alle Herkunfts-, Standes-, Religions- und sonstigen Gegensätze ignorierende Paarbildung zwischen dem mächtigen (?) preußischen Staatssekretär adliger Provenienz einerseits und der aus einfachsten Verhältnissen stammenden jüdischen Verlags-Sekretärin Ruth Berger andererseits die vorangegangene Liebesgeschichte zwischen Friedrich Kronstein und Evelyn Goldscheider sukzessive abzulösen beginnt – womit sich der Text zugleich von den referentiellen Bindungen eines Schlüsselromans an reale Vorgänge im Berliner Zeitungsmilieu der Weimarer Republik verabschiedet, um in die freie Fiktion des von Christian Jäger benannten „Durchhalteromans“ aus der Anfangszeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft hinüberzuwechseln. Aus dem „Roman Kronstein“ wird gleichsam der „Roman Schollwitz“ – und damit aus dem Verleger-Roman der Roman eines konservativen Presse-Kommissars. Als solcher nämlich wird Schollwitz am Ende von der neuen nationalen Regierung eingesetzt, um die staatliche Einflussnahme auf den Verlagskonzern Kronstein zuungunsten der vormaligen Eigentümer, die ihrer eigenen Entmachtung aktiv in die Hände gearbeitet haben, zu vollenden.

Im zeitgenössischen Kontext der zunehmenden Presselenkung durch die nationalkonservativen Präsidialkabinette der frühen 1930er Jahre, deren letztes bekanntermaßen ab 30. Januar 1933 unter dem Reichskanzler Adolf Hitler amtierte und die Zensurmaßnahmen der Vorgängerregierungen schlussendlich in der nationalsozialistischen Gleichschaltung der deutschen Medienlandschaft kulminieren ließ, steht Großmanns Figur des Joachim von Schollwitz als literarische Inkarnation eines ‚guten‘ konservativen Ministerialbeamten, der seine neuen Machtbefugnisse im Verlag keineswegs im Sinne der antisemitischen Ideologie missbraucht, sondern diese im Gegenteil aktiv bekämpft, weitestgehend singulär da: Das Bild eines positiv gezeichneten Presse-Kommissars dürfte nicht nur in der demokratisch engagierten Literatur und Publizistik der Zeit ihres gleichen suchen, sondern steht auch im Gegensatz zur faktischen Realität der Ereignisse in zahllosen deutschen Zeitungsverlagen, wie sie sich spätestens nach der endgültigen Machtübernahme der Nationalsozialisten abgespielt haben. Freilich bleibt auch der redliche von Schollwitz in Großmanns Roman nicht von der Ahnung einer Bedrohung durch die Nazis verschont, denen er sich mit seinen Handlungen ganz bewusst aussetzt. Indes wird ihm vom Autor die Rolle des mutigen Aufrechten zugemessen, der mit seinem Schlussplädoyer am Grab eines von den Nationalsozialisten ermordeten Feuilletonredakteurs jüdischer Herkunft sowohl die Notwendigkeit einer neuen deutsch-jüdischen Symbiose beschwört als auch die Hoffnung auf die Möglichkeit einer erfolgreichen Überwinterung und Überwindung des heraufdämmernden Hitler-Regimes ausspricht: Die titelgebende Wendung „Wir können warten“ – auf das Ende der Nazi-Barbarei nämlich – war vor Ende des zweiten Jahres von Hitlers Herrschaft, das Großmann knapp nicht mehr erlebt hat, als mögliche Zukunftsoption offensichtlich noch mit vollem Ernst ausformulierbar. Dass Großmann, hätte er länger gelebt, in Kenntnis der weiteren politischen Entwicklung den Roman mit diesem Schluss überhaupt noch für eine Veröffentlichung geeignet befunden hätte, darf allerdings füglich bezweifelt werden.

Man mag das Ende des Romans heute nicht ohne Beklemmung lesen; indes ist es genau die darin eingenommene, vom Verlauf der weiteren Ereignisse schon bald als tragische Illusion entlarvte Perspektive, die die Erstveröffentlichung des Textes 80 Jahre nach dem Tod seines Autors auf besondere Weise legitimiert, indem sie nämlich treffender als alle analytisch geglückteren Prognosen über die politische Zukunft der nationalsozialistischen Herrschaft imstande ist, einen recht genauen Eindruck von der Bewusstseinslage in manchen Kreisen der demokratisch gesinnten Opposition mit all ihren Hoffnungen und Visionen noch während der unmittelbaren Frühphase des Terrors zu vermitteln. Insofern bleibt den Schlussworten von Erhard Schütz nichts hinzuzufügen, wenn er am Ende seiner Einführung konstatiert, dass Großmanns Ullstein-Roman zweifellos beides ist: „ein ebenso beeindruckendes wie berührendes Dokument seiner Zeit!“ (S. 17)

 

Michael Pilz, 03.01.2015

Michael.Pilz@uibk.ac.at



[1] Die derzeit im Netz greifbaren Digitalisate des Tage-Buchs fußen offenkundig auf den Nachdrucken; jedenfalls sind die Jahrgänge 1927 bis 1933 noch nicht online verfügbar.

[2] Vgl. Christian Jäger: Vom Warten der Brüder. Historische Rekonstruktionen zu einem unveröffentlichten Roman Stefan Großmanns. In: Profile, Jg. 4 (2001), Bd. 7: Wien – Berlin. Mit einem Dossier zu Stefan Großmann. Hrsg. von Bernhard Fetz und Hermann Schlösser. Wien: Zsolnay, S. 219–236.

[3] Ebd., S. 219.

[4] In der Wiener Tageszeitung Der Morgen vom 18.12.1933 hatte Großmann u.a. mit Bezug auf Karl Kraus geschrieben: „Diese finstere Gegenwart enthüllt die Naturen der Menschen. Schauspielerseelen, die in Vortragssälen heroische Charaktere darstellen, löschen in dieser Zeit, da keiner schweigen dürfte, ihre Fackel aus. […] Diese innerste Identität zwischen Presse und Pressefeind zeigt sich gerade in diesen Tagen, da beide Hitler eigentlich schweigend gegenüberstehen, der eine mit einer Wortflut schweigend, der andere sich selber konfiszierend.“ – Zur Reaktion von Karl Kraus vgl. Die Fackel, 36 (1934), Nr. 889, S. 16. – Zum feindschaftlichen (Konkurrenz-)Verhältnis zwischen Großmann und Kraus vgl. Christina Wesemann-Wittgenstein: Stefan Großmann. Publizist, Theatermacher und Schriftsteller zwischen Wien und Berlin. Profile, Jg. 4 (2001), Bd. 7: Wien – Berlin. Mit einem Dossier zu Stefan Großmann. Hrsg. von Bernhard Fetz und Hermann Schlösser. Wien: Zsolnay, S. 158–184, sowie Bernhard Fetz: Tagebuch einer Beziehung: Wien oder Berlin? Der Feuilletonist Stefan Großmann. In: ebd., S. 185-200, insbes. S. 198f.