assmann_poetologien

Vom Versagen der Autoren, der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft

Oder: Die Folgen wissenschaftlicher Hybris. Eine Studie als Lehrstück. Von Stefan Neuhaus

David-Christopher Assmann: Poetologien des Literaturbetriebs. Szenen bei Kirchhoff, Maier, Gstrein und Händler. Berlin u.a.: de Gruyter, 2014. 532 S. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 139). ISBN: 978-3-11-035766-0. Preis [A] 123,40 €.

Es gibt eine gute Nachricht: Endlich ist der Unterschied von Literaturbetrieb und Literaturwissenschaft gefunden, er ist nahezu verblüffend einfach, aber viele große Erkenntnisse der Wissenschaft haben etwas Verblüffendes und Einfaches. Die für die zukünftige Entwicklung der Literaturwissenschaft zentrale Erkenntnis, die sich möglichst schnell und umfassend verbreiten möge, haben wir einer umfangreichen Dissertation von David-Christopher Assmann zu verdanken, sie ist standesgemäß bei de Gruyter erschienen, also in jenem Verlag, der in den deutschsprachigen und noch mehr in den ausländischen kulturwissenschaftlichen Fächern einen hohen, vielleicht sogar mit wenigen anderen den höchsten Stellenwert genießt, wenn es um den wissenschaftlichen Anspruch geht (diese Formulierung mag tautologisch anmuten, aber aus der Studie können wir folgern, dass Tautologien – leider – in der Literaturwissenschaft wie in der Literaturkritik nicht unüblich sind). Erfreulich und ein Ausweis von messbarer Qualität ist auch, dass der Druck der Arbeit durch gleich zwei Institutionen gefördert werden konnte.

Nun sei die interessierte Leserin / der interessierte Leser aber nicht länger auf die Folter gespannt, welches nun die zentrale Erkenntnis der Arbeit ist, die hier eigentlich, wenn es nicht den Gepflogenheiten des Mediums zuwider liefe, am besten in Fettdruck und Kapitälchen stehen müsste. Es sei ihr zumindest ein eigener Abschnitt zugewiesen. Sie lautet:

„Literaturwissenschaftliche Fremdbeschreibungen literarischer Kommunikation konzentrieren sich hingegen auf nicht mehr, aber auch nicht weniger als auf die ‚Redeskription‘ literarischer Phänomene als Formen, im Fall der diskutierten Texte als Literaturbetriebs-Szenen“ (S. 472f.).

Das ist nicht nur als Schlussfolgerung aus der gesamten vorherigen Argumentation zu sehen. An verschiedenen Stellen gibt es in der Arbeit immer wieder entsprechende Positionsbestimmungen (etwa auf S. 38), um deutlich zu machen, welches der Maßstab ist und letztlich auch, erkennbar im Kontext der jeweiligen Argumentation, ohne dass dies explizit gesagt würde, um einen Kontrast herzustellen zu den Autoren und Texten, um die es geht, und zu den LiteraturkritikerInnen oder LiteraturwissenschaftlerInnen, die sich mit diesen Autoren und Literaturbetriebs-Themen beschäftigt haben.

Leider ergibt sich daraus auch eine schlechte Nachricht: Weil sich, soweit ich das sehen kann, neben den AutorInnen die gesamte bisherige Literaturbetriebsforschung und darüber hinaus auch die Literaturkritik im Umgang nicht nur mit den behandelten Aspekten und Texten einer Nichtbeachtung der „Unterscheidung zwischen primären und sekundären Formen“ (S. 473) literarischer Kommunikation schuldig gemacht hat, können also, von AutorInnen ganz abgesehen, weder LiteraturkritikerInnen noch LiteraturwissenschaftlerInnen (oftmals sind Personen beides, sie nehmen aber textsortenspezifisch eine der beiden Rollen ein) keine Aussagen über Literatur treffen, die über bloße Meinungsäußerungen oder subjektive Einschätzungen hinausgehen.

Die glänzende Ausnahme ist, so bleibt zu folgern, David-Christopher Assmann. Seine Studie ist sehr gut recherchiert, die zahlreichen Verweise in den Fußnoten und das umfangreiche Literaturverzeichnis vermitteln den Eindruck, dass hier kaum etwas nicht gelesen, nicht gewogen und dabei für zu leicht befunden wurde.

Zunächst sei aber das Vorhaben der Studie etwas genauer skizziert: Assmann widmet sich dem „Verderben der Literatur im Literaturbetrieb um 2000“ (S. 1). Die Figur des ‚Verderbens‘ wird eingeführt als (offenbar pauschale?) Diagnose von AutorInnen und Angehörigen des Literaturbetriebs über die Literatur und den Literaturbetrieb, wobei es Assmann gerade nicht darum geht, die Unterschiede zwischen beiden Feldern herauszuarbeiten, die sich auch in den berücksichtigten Fällen oftmals in gegensätzlichen Positionsbestimmungen ausdrücken; dies wäre an den Konflikten der 1990er-Jahre, vor allem um Christa Wolfs Erzählung „Was bleibt“ (1991) oder Günter Grass‘ Roman „Ein weites Feld“ (1995), besser zu zeigen gewesen bzw. ist daran gezeigt worden.[1] Assmann wählt statt dessen vier jüngere Beispiele, die er genauestens in ihren Wechselwirkungen von Produktion und Rezeption rekonstruiert, und zwar die Autoren Bodo Kirchhoff, Andreas Maier, Norbert Gstrein und Ernst-Wilhelm Händler. Die Literaturbetriebsromane „Schundroman“ (2002), „Sanssouci“ (2009), „Die ganze Wahrheit“ (2010) und „Die Frau des Schriftstellers“ (2006) werden zwar besonders beachtet, da sie als kritische Positionsbestimmungen zum Literaturbetrieb im Literaturbetrieb und auch in der Literaturwissenschaft wahrgenommen wurden, doch greift der Versuch einer Rekonstruktion des Ineinandergreifens von Kommunikaten und Handlungen weit darüber hinaus, auch über die genannten Autoren; so werden beispielsweise immer wieder Bezüge zu Martin Walser, vor allem zu seinem Roman „Tod eines Kritikers“ (2002) hergestellt.

Dabei hätte es Anschlussmöglichkeiten an die bisherige Forschung gegeben, etwa wenn festgestellt wird, dass die Romane Gstreins und Maiers die ‚literaturbetriebliche Praxis‘ herausfordern, weil sie „die Möglichkeiten und Grenzen der entworfenen fiktionalen Realität im Kontext zu ihrem realen Gegenstück“ markieren (S. 254). Diese Art zu formulieren ist übrigens typisch für die Arbeit, die offenbar auch in ihrer Tendenz zur Substantivierung, Schachtelsatzbildung und offensiven Verwendung von im wissenschaftlichen Spezialdiskursen üblichem Vokabular neue Maßstäbe setzen möchte.

Allerdings werden entsprechende Vorarbeiten anders gelesen, als dies die Verfasser und Herausgeber intendierten, etwa wenn ein Aufsatz Volker Ladenthins neben anderen zitiert wird, um die – natürlich von Assmann als falsch ausgestellte – „Annahme zu belegen, „Skandale zeichneten sich insbesondere dadurch aus, für die literarische Öffentlichkeit ‚unberechenbar‘ zu sein“ (S. 278).[2] Dabei hat Ladenthin versucht zu zeigen, dass der Normbruch und damit der Skandal für Literatur wie Kunst konstitutiv ist, es sich folglich also, wenn man so will, um eine berechenbare Unberechenbarkeit handelt – eine, wie unschwer zu erkennen sein dürfte, mit der zitierten Feststellung nicht ganz kompatible Positionsbestimmung.

Solche Fehllektüren scheinen kein Zufall zu sein, nutzt Assmann doch beispielsweise die Fußnote als Medium, um auf die Studie von Matthias N. Lorenz zu Walser hinzuweisen,[3] eine Studie, die den Nachweis führen möchte, dass Martin Walsers „Tod eines Kritikers“ (und die anderen Schriften des Autors wie der Autor selbst) als antisemitisch zu klassifizieren sind (vgl. Fußnote 322 auf S. 442), eine Position, die außerhalb der Studie von Assmann durchaus nicht unwidersprochen hingenommen worden ist.[4] Die Arbeit von Lorenz wird von Assmann häufig und zustimmend zitiert. Eine von mir verfasste Arbeit, die versucht hat, gerade das Gegenteil nachzuweisen, und zwar den jahrzehntelangen Versuch Martin Walsers, gegen antisemitische Tendenzen in der deutschsprachigen Gesellschaft zu wirken und die Probleme der jüngeren Walser-Rezeption herauszuarbeiten, wird allerdings weder zitiert noch im Literaturverzeichnis angeführt.[5] Doch ist es gut möglich, dass Assmann trotz seiner akribischen Recherche diese kleine Arbeit entgangen ist, da er auf den nächsten Seiten einen Band von Dieter Borchmeyer und Helmuth Kiesel über die Probleme der Walser-Kritik[6] als unwissenschaftlich klassifiziert: „Auch in diesem Fall geht es nicht um Literaturwissenschaft, sondern um Positionierung in den feuilletonistischen Auseinandersetzungen“ (S. 444). Ob die beiden renommierten Heidelberger Professoren, die seit Jahrzehnten selbst auch in überregionalen Medien schreiben oder hochrangige Funktionen im Kulturbetrieb bekleiden, noch dazu lernen können? Man muss es hoffen.[7]

Der Verfasser dieser Zeilen kommt allerdings nicht ungeschoren davon, denn auch er dient dem Autor der Studie als Beleg für unwissenschaftliches Argumentieren, oder anders formuliert – eine Fußnote in einem von mir verfassten Aufsatz wird „jenseits literaturwissenschaftlicher Konventionen“ verortet (S. 443), weil sie keine Beispiele nennt. Dass sich die Fußnote auf Positionsbestimmungen bezieht, die in dem Aufsatz ausführlich referiert werden und in der Fußnote eine Verdopplung der Referenzen vermieden werden sollte, hat das gestrenge Urteil nicht verhindern können.

Die skizzierte Selbstbestimmung – oder Selbststilisierung – Assmanns als bzw. zum Gralshüter der Literaturwissenschaft ist also die andere Seite einer durchgängigen Kritik und mehr als deutlichen, wenn auch nicht expliziter formulierten Verurteilung des größten Teils der bisherigen Literaturbetriebsforschung. Insofern wiederholt Assmann genau das, was er den Kritisierten vorwirft. Der Gestus der Entlarvung von Verstößen gegen Wissenschaftlichkeit ist ein Gestus, der mit Bourdieu als Positionsbestimmung im Feld der Literaturwissenschaft gelesen werden kann:

„Das Feld der Macht ist der Raum der Kräftebeziehungen zwischen Akteuren oder Institutionen, deren gemeinsame Eigenschaft darin besteht, über das Kapital zu verfügen, das dazu erforderlich ist, dominierende Positionen in den unterschiedlichen Feldern (insbesondere dem ökonomischen und dem kulturellen) zu besetzen.“[8]

Assmann kopiert geschickt ein Verhalten, das ursprünglich der Typus des Intellektuellen für sich reklamiert hat:

„Der Intellektuelle konstituiert sich als solcher, indem er in das politische Feld eingreift im Namen der Autonomie eines kulturellen Produktionsfeldes, das zu einem hohen Grad von Unabhängigkeit gegenüber den staatlich-gesellschaftlichen Machtinstanzen gelangt ist […]. Zurückgezogen auf die ihm eigene Ordnung, gestützt auf seine ureigenen Werte der Freiheit, Selbstlosigkeit, Gerechtigkeit, die ausschließen, daß er seine spezifische Autorität und Verantwortlichkeit zugunsten zwangsläufig minderwertiger weltlicher Profite und Machtbefugnisse aufgibt, behauptet sich der Intellektuelle – gegen die eigentümlichen Gesetze der Politik, die der Realpolitik und der Staatsräson – als Verteidiger universeller Prinzipien, die nichts anderes sind als das Ergebnis seiner Universalisierung spezifischer Prinzipien seines eigenen Universums.“[9]

Man könnte auch sagen, dass es – Analog zur Abfolge von Avantgarde und arrivierter Avantgarde in Kunst und Literatur – Assmann darum geht, die bisherige Forschung in die Vergangenheit zurückzuverweisen.[10]

Dass Assmann gern Noten verteilt, zeigt sich bereits in der Widmung, die den größten Teil des sehr kurzen „Vorworts“ ausmacht, darin dankt er seiner „vorbildlichen Betreuerin“ (unpag.). Als Rezensent (nota bene: ich reflektiere durchaus meine Rolle, auch wenn ich ‚ich‘ schreibe) kann ich der Arbeit leider keine so gute Note ausstellen. Sie ist ausgesprochen gründlich recherchiert, aber haarsträubend in der Arroganz und Selbstverliebtheit ihrer Argumentation, die sie blind macht für die eigenen blinden Flecken und die sie nur das sehen lässt, was gut in eben diese Argumentation passt. Ob damit die Literaturbetriebsforschung nun endlich, frei nach Luhmann formuliert, auf der Ebene der Beobachtung 3. Ordnung angekommen ist, wage ich stark zu bezweifeln.

Denn das hier artikulierte Wissenschaftsverständnis ist ebenso schlicht wie falsch. Bourdieu und Luhmann beispielsweise haben gezeigt, was heute weitestgehend Konsens in allen Wissenschaften ist, dass Objektivität nur annäherungsweise existiert und dass die Reflexion der eigenen Position in der wissenschaftlichen Tätigkeit die wohl wichtigste Voraussetzung für diese Annäherung darstellt. Auch der Blick zu den Naturwissenschaften als den vorgeblich ‚harten‘ Wissenschaften hilft nicht weiter, hier haben schon sehr früh Albert Einstein, Kurt Gödel oder Max Planck nachgewiesen, dass es, wie es Fontanes Figur Dubslav von Stechlin einmal formulierte, keine ‚unanfechtbaren Wahrheiten‘ gibt. Dubslav (dessen Überzeugung hier weitgehend mit der Fontanes identisch sein dürfte) hat noch süffisant ein Paradox hinzugefügt, und wer, der mit Leidenschaft, aber eben nicht mit Fanatismus Literaturwissenschaft betreibt, möchte ihm da nicht zustimmen: Wenn es welche gibt, dann sind sie langweilig.[11]

Zum postulierten ‚neuen‘, ‚wissenschaftlichen‘ Standard passt auch nicht ganz, dass es immer wieder zu Fehlern kommt, die dem wissenschaftlich präzisen Blick des Verfassers entgangen sind, etwa: „Alamiert“ (S. 48). Das kann natürlich auch Absicht sein, will die Arbeit doch ‚ala[r]mieren‘ und vielleicht ist es auch nur ein Fehler, der sich eingeschlichen hat, weil Kirchhoff, um den es an der Stelle geht, das Wort selbst falsch geschrieben hat. In einer so weit über Literatur und Literaturbetrieb stehenden, ‚vorbildlichen‘ Studie ist sicher nichts zufällig fehlerhaft.

 

Stefan Neuhaus, 03.01.2015

neuhaus@uni-koblenz.de

 



[1] Vgl. die kurze Bestandsaufnahme und weiterführenden Literaturhinweise bei Stefan Neuhaus: Literaturkritik. Eine Einführung. Mit 8 Abb. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004 (UTB 2482), Kap. 5: „Streit im Feuilleton“, S. 107-130.

[2] Gemeint ist: Volker Ladenthin: Literatur als Skandal. In: Stefan Neuhaus u. Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 19-28. Der von der Studie immer wieder eingeforderten wissenschaftlichen Vollständigkeit halber (man sollte nie davon ausgehen, dass sich etwas von selbst verstehen könnte) sei darauf hingewiesen, dass das Wort in einfachen Anführungszeichen nicht von Ladenthin (sondern von Hans-Edwin Friedrich) stammt, dass der zitierte Satz allerdings unmittelbar an ein Zitat von Ladenthin anschließt.

[3] Matthias N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Mit einem Vorwort von Wolfgang Benz. Stuttgart: Metzler 2005.

[4] Zu den Problemen der Arbeit vgl. etwa Andrea Geier: Das ‚Prinzip Schlüssel‘: Matthias N. Lorenz entdeckt antisemitische Ressentiments in Martin Walsers Gesamtwerk. In: literaturkritik.de vom 21.09.2005 (abgerufen am 03.01.2015).

[5] Vgl. Stefan Neuhaus: Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ und seine Vorgeschichte(n). Oldenburg: bis-Verlag 2004 (Bibliotheksgesellschaft Oldenburg: Vor­träge – Reden – Berichte 43).

[6] Vgl. Dieter Borchmeyer u. Helmuth Kiesel (Hg.): Der Ernstfall. Martin Walsers „Tod eines Kritikers“. Hamburg: Hoffmann & Campe 2003.

[7] Um – angesichts der in dieser Studie hergestellten diffizilen Zusammenhänge aller Art – möglichen Spekulationen vorzubeugen: Der Rezensent kennt die Herren Borchmeyer und Kiesel nur vom Sehen, er hatte bisher über einen unverbindlichen Händedruck hinaus, der sich auf Tagungen und öffentliche Anlässe beschränkte, mit ihnen praktisch keinen Kontakt, weder ist er ihnen noch sind sie ihm in irgendeiner Weise verpflichtet.

[8] Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1539), S. 342.

[9] Ebd., S. 211.

[10] Vgl. ebd., z.B. S. 198.

[11] „Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig.“ Theodor Fontane: Der Stechlin. Roman. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1969 (Nymphenburger Taschenbuch-Ausgabe in 15 Bänden, Bd. 13), S. 10.