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Schwergewicht Buch

In "Das Ende einer Last" folgt Günter Karl Bose am Ende einer Ära den Spuren der Papier- und Buchgeschichte und entdeckt dabei so einiges. Von Anna Obererlacher


Günter Karl Bose: Das Ende einer Last. Die Befreiung von den Büchern. Göttingen: Wallstein 2013. 80 S. (Ästhetik des Buches, Bd. 2). ISBN: 978-3-8353-1355-2. Preis [A]: 20,50 €. 


Was ist ein Buch? Eine prosaische Wörterbuch-Antwort auf diese Frage lautet: „Buch bezeichnet unterschiedlich geheftete oder gebundene Lagen aus Pergament oder Papier“[1].  Natürlich wird mit dem Terminus „Buch“ ein Konzept assoziiert, das weit mehr beinhaltet als die reine Beschäftigung mit den physischen Eigenschaften des Gegenstandes. Doch selbst wenn gewöhnliche weiße Blätter durch das Bedrucken mit Buchstaben plötzlich zum Kulturgut werden, ist der Inhalt für bibliophile Menschen oft nicht entscheidend. In Die Kunst des Bücherliebens konstatiert Umberto Eco, dass es vielmehr um das Objekt bzw. den Gegenstand, aber auch um die Liebe „zu seiner Geschichte“[2] gehe. Mit Überlegungen wie diesen und noch vielen weiteren befasst sich auch Günter Karl Boses Essay Das Ende einer Last. Die Befreiung von den Büchern.

Auf gelblichweißen, fadengehefteten Seiten Alster-Werkdruck-Papier[3]  erschreibt sich Bose – seines Zeichens Leiter des Instituts für Buchkunst an der Leipziger HGB – eine kleine Geschichte des Papiers bzw. des Buches. An den Ausgangspunkt seiner Überlegungen stellt er Reflexionen zum papierbedingten Gewicht des Buches in einem Zeitalter, in dem Lesestoff zunehmend nicht mehr in Kilo, sondern in Kilobyte gewogen wird. Nach Bose ist die Epoche des Papiers abgelaufen – ein guter Zeitpunkt also, um sich ihr gedanklich anzunähern. Sein Essay lädt zunächst dazu ein, über die Entwicklungen im Bereich der Papierproduktionstechniken zu sinnieren und widmet sich dabei dem 19. Jahrhundert besonders intensiv – ist es doch das Jahrhundert, in dem technische und naturwissenschaftliche Fortschritte enorme Auswirkungen auf die gesamte Buchbranche haben. Tatsächlich wurden jedoch weniger Bücher gelesen und gekauft, als Berichte über die rapide ansteigende Alphabetisierungsrate in dieser Zeit zunächst vermuten lassen würden: Es sind vor allem die kostengünstigen Zeitschriften und Zeitungen, die der vielerorts herrschenden Zensur zum Trotz beim lesenden Volk ankommen. Es wird aber auch von den Massen an Papier erzählt, die zu administrativen Zwecken Verwendung finden, und davon, dass mit dem Aufkommen industrieller Herstellungsverfahren hochwertiges Papier plötzlich nichts mehr Außergewöhnliches ist. Buchliebhaber schätzen hingegen das seltene Buch und kennen seine Geschichte: der „Wert des Buches ist ein ideeller“ (S. 17). Trotz der Vielzahl unterschiedlicher sinnlicher, material- und leseortsbedingter Eindrücke, die beim Lesen, Auffächern oder Durchblättern entstehen können, bleibt das Buch doch „ein gefügtes Ganzes“ (S. 17) und hat ob seiner physischen Präsenz Raumbedarf – aber wer hat schon Platz für Bücher? Vor Überlastung stöhnende Bücherregale waren nur „in den Wohnungen gebildeter Bürger“ (S. 24) zu finden, berichtet Bose. Weniger gut betuchte erhielten, wenn überhaupt, über die aufkommenden Leihbibliotheken kostengünstigen Zugang zur Literatur. Und jene, die sich dann doch einmal ein Buch leisten konnten, standen vor der schwierigen Aufgabe, eine Auswahl treffen zu müssen.

Für das 20. Jahrhundert wartet Bose mit Berichten von Typografen auf, deren Arbeit heute eine Software erledigen kann; von Verlegern, die zunehmend mit dem Selbstverständnis von Kulturverlegern auftreten; von der tiefsitzenden Angst, Büchern etwas anzutun; vom Energieverbrauch, der durch die aufkommende Digitalisierung entsteht; von Schädlingen, die sich im Gegensatz zur Menschheit nicht geistig von den Druckwerken ernähren; und nicht zuletzt auch vom idealen körperlosen Buch.

Wer einen pessimistisch empörten Aufschrei über den Untergang der Buchkultur erwartet, wird enttäuscht sein. Das Ende einer Last verurteilt die Gegenwart nicht, genauso wenig wie es das papierene Zeitalter glorifiziert. In einer gelungenen Symbiose aus harten Fakten und kurzen Ausflügen in die unterschiedlichsten Bereiche der Papier- und Buchbranche – unterstützt durch Zitate bekannter Wegbegleiter und scharfsinnig beobachtender historischer Zeitgenossen – zeigt Günter Karl Bose einen Weg auf, über ein Kulturgut nachzudenken, ohne dabei (weder im sprachlichen Ausdruck noch inhaltlich) melancholisch zu werden. Selbst in den zum Teil umfangreichen Anmerkungen finden sich lesenswerte Anekdoten, informative Randnotizen und Abbildungen. So kann man dort etwa erfahren, welche Papiersorten den Geschmack von Schädlingen eher treffen als andere und welche umweltbelastenden Konsequenzen das Abwasser aus der Papierproduktion noch heute haben kann.

Bose richtet den Blick auf die Rolle des Buchs in der europäischen Kulturgeschichte und das Material, aus dem es besteht. Grundlegend ist dabei das Nachdenken über die Physis eines vom Aussterben bedrohten Mediums, so wie wir es kennen: „Das angekündigte Ende des Buches, sein prognostiziertes Verschwinden, hat die Sinne für die Qualität seiner Stofflichkeit geschärft“ (S. 55). Man beginnt sich zu fragen, was man vermissen würde, wenn im Bücherregal nichts als ein keine 200 Gramm schwerer E-Book-Reader stünde.

Das Ende einer Last, dessen Typgraphie und Gestaltung von Günter Karl Bose selbst stammen, ist außerdem ein schönes Buch, außen wie innen. Den aus Augereau-Antiqua gesetzten Text begleiten gut ausgewählte Schwarz-Weiß-Fotografien aus den 1930er bis 1960er Jahren, die das Verhältnis Papier/Buch/Mensch reizvoll illustrieren. Nicht zuletzt ob seiner schlanken 80 Seiten ist das Bändchen außerdem leicht und würde selbst einem fragilen und von Prachtbänden mit Goldschnitt überladenen Bücherregal bestimmt nicht zur Last fallen.


Anna Obererlacher, 01.10.2014




Anmerkungen:

[1]  DWDS [zuletzt abgerufen am 28.9.2014]

[2]  Eco, Umberto: Die Kunst des Bücherliebens. München 2011, S. 34.

[3]  Gemäß den Angaben in der Titelei des Bandes und des Papier-Herstellers Geese-Papier [zuletzt abgerufen am 29.9.2014].