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Der öffentliche Autor

Carolin John-Wenndorfs Studie zur Selbstinszenierung von Schriftstellern. Von Marc Reichwein


Carolin John-Wenndorf: Der öffentliche Autor. Über die Selbstinszenierung von Schriftstellern. Bielefeld: Transcript 2014. 495 S. ISBN: 978-3-8376-2757-2. Preis [A]: 46,30 €.


Was macht Offene Briefe und offenes Haar zu ebenbürtigen Waffen des literarischen Betriebs? Beide können Schriftstellerinnen und Schriftstellern auch jenseits ihrer eigentlichen Werke öffentliche Aufmerksamkeit bescheren. Studien zum politischen Engagement, Aussehen oder Internetauftritt von Autoren haben das im Einzelfall längst erkundet. Aufzuzählen, was überhaupt alles zum latenten Repertoire werkexterner Schriftsteller-Praktiken gehört, bleibt ein Desiderat der Forschung. Carolin John-Wenndorf geht dem Thema in ihrer jüngst veröffentlichten Dissertation nach.

Die Studie setzt voraus, dass sich Schriftsteller auch jenseits ihrer eigentlichen Werke im literarischen Feld profilieren. Das kann durch politische Parteinahme geschehen (Elfriede Jelineks Eintritt in die KPÖ anno 1974) oder ein Autorenfoto (Christian Kracht mit Kalaschnikow anno 1999); es kann ein offener Brief der Anlass sein („J’accuse“; „Mein lieber Günter Grass“ oder, um ein aktuelles Beispiel zu bemühen, ein Protestschreiben gegen Amazon). Auch Tabubrüche in öffentlichen Reden („Halbwesen“; „Auschwitz-Keule“), Tagebücher, autobiografische Anekdoten oder öffentliche Eingeständnisse sorgen von Magersucht (Alexa Hennig von Lange) über Inzest (Georg Trakl) und die Mitgliedschaft in der Waffen-SS (Günter Grass) bis hin zur Stasi-Mitarbeit (Christa Wolf) für diskursiven Schmierstoff. Dass die Geschichte des werkbegleitenden und werkexternen Interesses an Schriftstellern längst eine Tradition ganz eigenen Ranges beschreibt, lässt sich jedenfalls kaum leugnen. Dass sie neuerdings verstärkt die Literaturwissenschaft beschäftigt, mag ein Effekt unserer Mediengesellschaft sein.


Das Repertoire des öffentlichen Autors

John-Wenndorfs Studie ist dreiteilig gegliedert: Im ersten Teil liefert sie eine Geschichte der schriftstellerischen Selbstdarstellung im Schnelldurchlauf oder – mit den Worten der Verfasserin – „eine kulturhistorische Revue“ von Walther von der Vogelweide bis Charlotte Roche. Im Anschluss an die diachrone Darstellung wird die Idee vom öffentlichen Autor „in einem überhistorischen Katalog von zwölf Praktiken gebündelt“. Im dritten Teil wartet ein kleines „Panoptikum idealtypischer Dichterfiguren, wie man sie heute, wenn man wachen Augen unterwegs ist, im Literaturbetrieb antreffen kann“.

Revue, Katalog, Panoptikum – was nach (un-)wissenschaftlichen Tretminen klingt, tut der Lesbarkeit und dem Unterhaltungswert der Untersuchung keinen Abbruch, im Gegenteil: der nonchalante Zugriff auf den Gegenstandsbereich wirft Lichtkegel auf ein ganzes Arsenal an schriftstellerischer Selbstinszenierung. Praktiken der Häresie („Beschreibungsimpotenz“) gehören ebenso dazu wie Täuschungen (Binjamin Wilkomirski als Holocaust-Transvestit) oder Phänomene der Gruppenbildung. Auch Liebschaften (Ingeborg Bachmann und Paul Celan) oder historische Wahlverwandtschaften (Gisela Elsner als optisches Kleopatra-Zitat) können öffentliche Aufmerksamkeit generieren. Daneben bürgen aber auch ganz klassische, bescheidene Paratexte für Sichtbarkeit im Literaturbetrieb und konstituieren Images: Buchtitel, Widmungen und Motti sowie performative Aspekte, etwa das Verhalten von Schriftstellern bei und nach Lesungen: „Das ist nicht mein Beruf, denke ich, aber da stehe ich“ (Max Frisch).


Wiederkehrende Muster

Ähnlich wie die Literaturgeschichte das Märchen, den Roman und andere Gattungen ausgebildet hat, kennt auch die Literaturbetriebsgeschichte ein bestimmtes Set von Mustern, mit denen Schriftsteller Aufmerksamkeit für sich generieren. Zwölf einschlägige Praktiken des öffentlichen Autors stellt John-Wenndorf vor. Und sie diskutiert, theoretisch rückversichert durch Pierre Bourdieu (Habitus und Kapital) und Gérard Genette (Paratexte) sowie Roland Barthes (Mythenanalyse) und Michel Foucault (Diskurstheorie), was die dichterisch-intellektuelle Selbstdarstellung von der Inszenierung allgemeiner Celebrities immer noch unterscheidet, nämlich die Betonung sprachlicher Fähigkeiten. Im literarischen Feld zählt trotz aller Dominanz der visuellen Medien meist der Geist und weniger die schiere Physis oder der stilisierte, derb-ruinöse Umgang mit dem eigenen Körper wie bei Popstars.

Mit Blick auf den digitalen Raum, den John-Wenndorf weitgehend monolithisch anhand von Autoren-Websites abhandelt (Sibylle Bergs Twitter-Aktivitäten werden immerhin gestreift), scheint die Studie von der Gegenwart der sozialen Netzwerke fast schon überholt. Denn das Auftreten und Mitwirken von Autoren bei Facebook & Co dürfte für die Präsenz in bestimmten Teilöffentlichkeiten längst ein genauso imagerelevanter Faktor sein wie die klassische Präsenz in der Teilöffentlichkeit Feuilleton.

Für die weiterführende Forschung empfiehlt sich in jedem Fall ein Abgleich mit der Typologie und Geschichte von Schriftsteller-Inszenierungen, die Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser 2011 vorgelegt haben und die John-Wenndorf in ihrer zeitgleich entstandenen Dissertation offensichtlich nicht mehr hat berücksichtigen können.


Kritikpunkte

Man kann John-Wenndorfs abundante Monografie, die gut und gerne Stoff für ein ganzes Habilitationsprojekt hergegeben hätte, für einiges kritisieren: Vieles bleibt im revuehaften Schnelldurchlauf arg kursorisch. Umgekehrt erzeugt die Vorliebe der Studie für visuelle Inszenierungspraktiken eigenartige Unwuchten. So bildet der Bereich der ikonografisch analysierbaren Repräsentation von Schriftstellern einen deutlichen Schwerpunkt der Studie; gleichwohl bleiben bestimmte Epochen (wie die 1920er und 1930er Jahre) kommentarlos außen vor.

Das fehlende Personen- bzw. Künstlerregister ist ein Manko; es würde den Wert von John-Wenndorfs panoramatischen Ausführungen wesentlich steigern, wenn man die Inszenierungspraktiken auch nach Schriftstellern belegt hätte. Überhaupt wird die Frage, welche Autorinnen und Autoren John-Wenndorfs Studie wann und warum bestücken, nirgends gesondert reflektiert. Gefühlt gilt John-Wenndorfs Sympathie vor allem solchen Vertreterinnen und Vertretern des literarischen Lebens, die sich werkextern stark profiliert haben: Marken wie Elfriede Jelinek, Peter Handke, Günter Grass. Wie aber verhält sich die Inszenierungspraxis bei rundum unauffälligen Schriftstellern? Und welche besonderen Regeln müsste man für Debütanten oder Migranten beschreiben?


Mehr Kür als Pflicht

Mit Blick auf die – erklärtermaßen „nicht ganz ernst gemeinte“ – Dichter-Typologie, mit der John-Wenndorfs ihre Studie beschließt, stellt sich die Frage: Wie intentional ironisch (im Sinne von unzuverlässig) darf Wissenschaft sein? Kategorienbildungen wie „Die wachsame Wort-Akrobatin“ oder „Der sehnsuchtsvolle Emphatiker“ wirken unfreiwillig komisch, weil sie den Marketing-Sprech der Sinus-Milieus simulieren. So witzig, klug und anspielungsreich die Typenparade aus dem Dickicht des literarischen Feldes geraten ist, so sehr offenbart sie das Wesen einer Qualifikationsarbeit, die durchweg lieber Essay – sprich: „Freizeitform von Wissenschaft“ – als definitorisch rundumversichert sein will.

Pflichtvernachlässigung hin, Kür her: John-Wenndorfs Studie bewegt sich erfrischend unkonventionell und jargonfrei durch ein wissenschaftlich weitgehend unbeackertes Feld – das beschert ihr zu Recht journalistische Aufmerksamkeit. Und: Das Buch kann auch der Forschung zahlreiche Anregungen liefern. Allein schon das tragikomische „Wassermann“-Schicksal des John von Düffel („ich habe gesehen, dass ich gewissen Etiketten nicht mehr entkomme“; vgl. S. 327 ff. und hier) provoziert die Frage, welchen Image-Anteil von Autoren Frames der Mediengesellschaft auf dem Gewissen haben. Hier muss eine künftige Literaturkritikforschung unbedingt noch stärker auf Wechselwirkungen zwischen Selbst- und Fremdinszenierung fokussieren. Auf dass die umfassende Literatur(betriebs)geschichte der Schriftstellerinszenierung eines Tages doch noch geschrieben werden möge, sei es als große Einzelstudie oder sei es mehrbändig, von einem Wissenschaftlerkollektiv.


Marc Reichwein, 01.10.2014