Literaturarchiv – Literarisches Archiv

Literaturarchiv – Literarisches Archiv

Ein neuer Sammelband beschäftigt sich mit der Poetik literarischer Archive. Von Andrea Krotthammer


Stéphanie Cudré-Mauroux, Irmgard M. Wirtz [Hrsg.]: Literaturarchiv – Literarisches Archiv. Zur Poetik literarischer Archive. Archives littéraires et poétiques d’archives. Écrivains et institutions en dialogue. Göttingen/Zürich: Wallstein/Chronos 2013.  (Beide Seiten. Autoren und Wissenschaftler im Gespräch, Bd. 3). 152 S. ISBN (Wallstein): 978-3-8353-1133-6. - ISBN (Chronos): 978-3-0340-1156-3. Preis [A]: 15,40 €.


„Der Fokus liegt auf dem spannungsreichen Tauschverhältnis zwischen dem Literaturarchiv, dem literarischen Nachlass und dem literarischen Nachleben.“ So heißt es im Inhaltstext des Sammelbands und bereits in ihrer Einleitung stellt I. Wirtz – Leiterin des Schweizer Literaturarchivs und Mitherausgeberin dieses vorliegenden Sammelbands – klar, dass Literaturarchive ob ihres prestigeträchtigen Inhalts zwar Geldinstituten ähneln,[1] der Wert ihrer eigenen Währung aber einer ständigen Neuverhandlung bedürfe. S. Cudré-Mauroux fährt fort, indem sie dem Sammelband einige terminologische Unterscheidungen voranstellt. Der Sammelbandtitel „Poétiques d’archives“ sei nicht zu verwechseln mit „Poétiques de l’archive“, Titel einer von M.-P. Huglo 2008 herausgegebenen Ausgabe der kanadischen Semiotikzeitschrift Protée. Während letzterer auf Autoren rekurriert, die ihren Texten durch Archivmaterial mehr Authentizität verleihen wollen (berühmtes Beispiel: J. Littell Die Wohlgesinnten), legt ersterer den Blickpunkt auf die erst unlängst gegründeten Literaturarchive, die sich aus den Autorenbeständen selbst speisen. So wie M.-P. Huglo dem Archivdepot Objektivität und Totalität zuschreibt und der Sammlung Subjektivität und Selektion, verweist aber auch S. Cudré-Mauroux auf die Unterschiedlichkeit von Beständen in den verschiedenen Literaturarchiven. Diese Diskrepanz zwischen Archiven mit enzyklopädischer Tendenz – der Beitrag von A. Kilcher wendet sich diesem Typus im Besonderen zu – und „monographischen“ Archiven illustriert die Autorin auf überzeugende Weise anhand der im Schweizer Literaturarchiv dokumentierten Autoren Jean Starobinski und Étienne Barilier. Während Barilier sein Archivmaterial bewusst aussondiert habe, habe Starobinski dem Archiv seine Sammlung völlig unselektiert übergeben: „Ich gebe Ihnen alles – Sie werden schon wissen, was sie davon wegwerfen können.“ (Starobinski in Cudré-Mauroux 2013 : 13)

Dass Literaturarchive aber im Allgemeinen nichts ‚wegwerfen‘, sondern gerade gegen derartige ‚Lücken‘ ankämpfen, beweisen die folgenden fünf Beitragenden.

U. Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach, geht auf die im Inhaltstext angeschnittenen Begriffe Nachlass und Nachleben ein und ergänzt den erst seit kurzem gebräuchlichen Begriff ‚Vorlass‘. Während der Begriff ‚Nachlass‘ in seiner literaturwissenschaftlichen Bedeutung auf die Weimarer Klassik in der Sattelzeit um 1780 zurückgehe, sei der Begriff ‚Vorlass‘ ein Neologismus der 1990er Jahre, als Autoren bereits zu Lebzeiten – meist gegen Bezahlung – ihren derzeitigen ‚Nachlass‘ an Literaturarchive übergaben. Neben dem Streben nach Geld und posthumen Ruhm beweise dieses Phänomen vor allem ein Grundvertrauen in die Nachwelt. Der ‚Nachlass‘ – das, was letztendlich im Archiv ankomme –  habe meist schon mehrere Instanzen – die Vorformung durch den Autor ist hier nur eine – durchlaufen. Letztendlich sei der so bewusst geformte Vorlass „eine Art Arche, gebaut und beladen, um die Flut der Zeit zu überqueren.“ (S. 25) Hugo ging in dieser Hinsicht wohl auf Nummer sicher, hütete er seine Manuskripte doch in wasserfesten Säcken und feuerfesten Safes. Der Begriff ‚Nachleben‘ bezeichne schließlich eine Art zweite Geburt des Autors nach dessen Tod, ein Leben, das nun aber ganz von der Gunst der Nachwelt abhängig sei. Dass die Nachwelt nicht immer ihr literarisches Gedächtnis pflegt und pflegen kann, beweisen die verfrüht ausgelöschten Existenzen im katastrophengeschüttelten 20. Jahrhundert. Auch P.-M. Biasi, B. Fetz und K. Pomian machen in ihren Beiträgen deutlich, dass dort, wo ein Erinnern möglich ist, ‚Lücken‘ nicht geduldet werden dürfen.

P.-M. Biasi warnt dabei in seinem Aufsatz „Die verlorenen Wege der Schöpfung“[2] vor den Auswirkungen des digitalen Zeitalters auf die critique génétique, ein relativ junger methodologischer Ansatz zur Textgenese. Das literarische Endprodukt werde dabei als die Folge eines langen Prozesses der Recherche, der Überarbeitung aufgefasst. Nicht das Geschriebene, das Werk an sich des Autors (auteur) sei im Zentrum der Analyse, sondern die zeitliche Dimension des Schreibprozesses durch den ‚Schreiber‘ (écrivain), das im Werden begriffene Werk (devenir oeuvre). Nicht immer wurde dem Manuskript „von der Hand des Autors“ (Biasi 2013:38) eine solche Aufmerksamkeit geschenkt. Klassische Manuskripte aus der Antike oder dem Mittelalter liegen meist in Abschriften vor, die Originalfassung ging verloren. Erst ab dem 16. bzw. 18. Jahrhundert wurde das Manuskript des Autors als Ausdruck dessen genuiner Schöpfungskraft aufgewertet – und seither für die Nachwelt aufbewahrt. Dieses Archivmaterial bildet heute die Grundlage der critique génétique, die sich wiederum des digitalen Mediums bemächtigte, und zwar als geeignete Publikationsform für die beachtliche Datenmenge (ein Roman von 500 Seiten umfasst etwa 10 000 Din A-4 Seiten avant texte-Material!) und als adäquate Visualisierungsmöglichkeit des Schreibvorgangs mit Hilfe der Indexierungsfunktion. Die Herausbildung des digitalen Mediums war – so die Vermutung des Autors – aber auch mit ein Grund für die eigentliche Konstituierung des neuen Analyseansatzes, der das Aussterben des Manuskripts durch das neue Medium befürchtete. Verlagert sich nämlich die literarische Textproduktion auf das digitale Trägermedium, gehen Spuren ihrer Entstehung verloren, so zumindest Biasi, der im Grunde genommen bereits in seinem Titel keinen Zweifel daran lässt, dass dieser Prozess als so gut wie ‚vollzogen‘ zu betrachten ist. Auf dem Bildschirm erscheine das nunmehr „digitale Manuskript“ ‚gesäubert‘ von seiner Vorgeschichte, was die zweite Bedeutung von ‚net‘, neben ‚Intra/Internet‘, in Biasis Wortspiel umfasst: „Intra ou Inter, sur l’écran, tout est net.“ (Biasi 2013: 43) Wohl sei hier einzuwenden, dass durch die automatische Speicherfunktion die Textgenese haargenau gespeichert werde und unter der Funktion „Rückgängig“ sichtbar gemacht werden könne. Das digitale Zeitalter erscheine so, ganz im Gegenteil, als das Goldene Zeitalter der critique génétique. Der Autor führt aber auch das (viel eher) mögliche Katastrophenszenario an: Der totale Datenverlust, der eintrete, wenn Softwarehersteller ihre Produkte nicht mit einer vereinfachten Archivierungsfunktion ausstatten. Bis dato könnten gelöschte Dateien nämlich einzig mit Hilfe professioneller IT- Forensiker wiederhergestellt werden. Selbst gespeicherte Dateien müssten regelmäßig auf neue Harddisks kopiert werden, deren Lebenszeit bei 5-10 Jahren liege (Papier erreicht 100 Jahre), wobei ebenfalls anzuzweifeln sei, ob Literaten Harddisks älterer Geräte bei Computerwechseln überhaupt aufbewahrten. Beides wäre finanziell bedingt nur für eine kleine Auswahl an Autoren möglich.

B. Fetz illustriert am Beispiel Günther Anders und dessen Umgang mit dem Nachlass seiner im Holocaust umgekommenen Familie, dass das Erinnern nicht immer so willkommen geheißen wird wie in Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters. Als Anders 1948 wie aus heiterem Himmel den Nachlass seiner Verwandten an seine Adresse in New York zugestellt bekommt, nimmt er die sich ihm aufdrängenden Kisten, die er mit „Totenfässern“ (52) vergleicht, nur unwillig an. Indem er die Dokumente aber liest und ordnet, haucht er den Verstorbenen für kurze Zeit ein Nachleben ein und zieht aus ihnen obendrein kulturkritische Erkenntnisse über den veränderten Liebesbegriff, woraus in weiterer Folge sein Werk Lieben gestern entsteht. In den Handschriften der Brieffreundinnen seiner Großmutter sieht er sein für ihn in der abendländischen Philosophie unerreicht gebliebenes Ideal von der „motorischen Wahrhaftigkeit“ realisiert, worunter er die Einheit von Ausdruck und Aussage versteht. Als „der Denker der Diskrepanz“ (64), so B. Fetz, habe er zeitlebens versucht, den Graben zwischen Ausdruck und Aussage in der eigenen Philosophie zu schließen, indem er sein philosophisches Schreiben durch Metaphern, Fabeln und szenischen Arrangements mit literarischem Schreiben zusammenführte und so verständlicher machte. Eine andere Diskrepanz ergebe sich aus dem „Atomzeitalter“ (68), in dem sich die Menschen des 20. Jahrhunderts befänden. Für ihre eigenen technischen Erzeugnisse – Stichwort Atombombe, NS-Vernichtungsindustrie – fehle ihnen die Vorstellungskraft. Die ‚negative Anthropologie‘ von Anders sehe deshalb die Freiheit des Menschen mehr und mehr verengt, der sich zusehends machtlos gegenüber der immer eigenständiger werdenden Technik fühle. Auch in einem anderen Punkt unterscheide sich Anders‘ Anthropologie der Nachkriegszeit damit vom Existentialismus Heideggers der Vorkriegszeit: Um nämlich die Lücke zwischen ‚Machen‘ und ‚Vorstellen‘ zu schließen, brauche es einen neuen künstlerischen Weltzugang, ein Menschenbild, das, anders als bei Heidegger, die eigene Körperlichkeit nicht asketisch verleugne, sondern sich die Welt ‚lebend‘ einverleibe.

Auch bei K. Pomians Artikel "Kultura et ses archives"[3] geht es um die Erinnerung, genauer gesagt, den „Kampf der Erinnerung“ (Pomian 2013:88) gegen jene, die Gegenstimmen im nationalen Diskurs lieber aus dem nationalen Gedächtnis löschen würden. Erinnerungsort ist hierbei das in der Nähe von Paris gelegene polnische Literaturinstituts Kultura, dessen Gründervater Jerzy Giedroyc (1906-2000) zeitlebens gegen die Zensur im Heimatland kämpfte und regime-bzw. ideologiekritische Texte polnischer (Exil-)Literaten in seiner Zeitschrift Kultura veröffentlichte. In Zeiten des Eisernen Vorhangs suchte er den Dialog zu anderen Nationen, vermittelte zwischen polnischem Inland und Ausland und betrieb so eine eigene ‚Ostpolitik‘, aber auch in der Folgezeit kämpfte er gegen den Extremismus der Rechten und den Einfluss des Klerus im Heimatland, wofür sein Institut 2009 mit der Aufnahme in die UNESCO Liste des Weltkulturerbes belohnt wurde. Die antikommunistische Haltung Giedroycs veranlasste ihn bereits als Soldat der polnischen Armee nicht ins kommunistische Heimatland zurückzukehren und mit einigen Gleichgesinnten 1946 das Verlagshaus Casa Editrice Lettere in Rom zu gründen, wo ein Jahr später die erste Ausgabe von Kultura erschien. Bald darauf übersiedelte es nach Frankreich, wo Kultura trotz schwieriger Verlagszeiten bald zum Hauptorgan der polnischen Intelligentsia in der Diaspora wurde. Aus dem Skandaljahr 1951, in dem das Literaturinstitut entgegen seines Grundprinzips einen kommunistischen Literaten (Miłosz) Exil gewährte, was für einen Aufschrei unter den Abonnenten sorgte, ging es mit zwei neuen Avantgarde-Autoren, neben Miłosz war auch noch Gombrowicz zum Team gestoßen, gestärkt hervor. Gerade die Publikation von  Miłosz‘ Artikel in Kultura, in dem dieser den polnischen Emigranten politische und intellektuelle Unwirksamkeit vorwarf, zeugt von der Meinungsdiversität, für die das Magazin eine Plattform bildete, gleich einem veritablen „Parlament des polnischen Denkens“, so die Schriftstellerin Maria Dąbrowska (in Pomian 2013:85), mit Verweis auf das Warschauer ‚Scheinparlament‘. K. Pomian bietet eine umfassende Darstellung der Geschichte des Literaturinstituts. Dessen Bedeutung als Erinnerungsort bearbeitet der Autor leider ohne kulturwissenschaftliche Metareflexion.

Der fünfte Artikel des Sammelbands führt das weiter, was U. Raulff als Potential der heterogenen Literaturarchive ansieht. Da sie aus unterschiedlichen Einzelnachlässen bestehen, bilden sie einen polyphonen Ort der Unruhe, der Bündelung poetischen Potentials, das den Schreibprozess selbst neu stimulieren könne. A. Kilcher behandelt die theoretischen Grundlagen einer solchen „enzyklopädischen Archivpoetik“ (92). So wie Archive sammeln Enzyklopädien Kontextwissen zu einem literarischen Text, doch während Archive dies selektiv tun und sich auf das aktuelle historisch-biographische Umfeld beschränken, explorieren die Enzyklopädien den potentiellen, umfassenden Wissenskontext. Nach Umberto Ecos Semiotik ist das enzyklopädische Zeichen, im Unterschied zum Zeichen im Wörterbuch, nicht „eindeutig definierbar, sondern verbleibt offen interpretierbar.“ (93) Es handle sich um eine unendlich bleibende gegenseitige Verknüpfung aller potentieller Zeichen, eine „Totalität von kontextuellen Bezügen“ (95), die Absolutform von Intertextualität, die in alle Richtungen gehe, sodass der Text selbst als nicht-hierarchische und nicht-lineare „Textur“ (96) aufgefasst werde. Die praktische Umsetzung dieser „enzyklopädischen Archivpoetik“ beschreibt A. Kilcher anhand einer Beispielanalyse von Kafkas Bericht für eine Akademie mittels der Kafka-Enzyklopädie "Das virtuelle Kafka-Bureau". So wie jede potentiell unendliche enzyklopädische Analyse müsse auch diese aber einmal abgebrochen werden. Durch sie werde aber Kafkas „ruminatives, verdauendes, umwandelndes Schreiben“ (113) sichtbar, das die Diskurse seiner Zeit palimpsestartig in der eigenen ‚Textur‘ durchscheinen lasse.

 Abgerundet wird der Sammelband mit Interviews zweier Autoren: Sylviane Dupuis auf frankophoner Seite und Christian Haller auf deutschsprachiger Seite. S. Cudré-Mauroux[4]  befragt die Autorin Sylviane Dupuis über ihr persönliches Verhältnis zu Literaturarchiven. Auf ihr eigenes Archiv aus Manuskriptmaterial komme sie nach Veröffentlichung eines Werks nicht mehr zurück, denn: „La <cuisine> du texte est derrière moi.“ („Das <Kochen> des Textes liegt hinter mir.“) (Dupuis in Cudré-Mauroux 2013:124) Es sei eine unwiderrufliche Momentaufnahme der Beziehung zwischen ihrem literarischen Ich und den im Text behandelten Fragestellungen. Eine neuerliche Überarbeitung würde dem Werk eine völlig neue Form geben, da sich die Autorin weiterentwickelt habe. Bei Lesungen älterer Stücke spüre sie dieses Missverhältnis zwischen vergangenem und jetzigem Ich in dem Bild ihres Fußes, den sie in den alten, nicht mehr deckungsgleichen, Fußabdruck setze. Einzig auf ihre Tagebücher sei sie später noch einmal zurückgekommen, woraus ihr Essai Travaux du Voyage entstand. Nach der Publikation dieses Werks seien dessen avant-textes aber auch „erschöpft“ (Cudré-Mauroux 2013:118) gewesen, denn sie hatten nun alles gegeben, was sie zu geben hatten.  Als Autorin übernehme sie Verantwortung für das abgeschlossene Werk, das sie der Nachwelt weitergeben möchte, denn es habe nach dem langwierigen Schreibprozess seine organische Einheit erreicht und sei nun ein fein konstruiertes Gebilde aus Anfang, Mitte, Ende und internen Verweisen, eine „Architektur an Worten“ (Dupuis in Cudré-Mauroux 2013:116). Wie Schlegel betrachte sie das Kunstwerk als sich selbst genügend, wie ein Igel in sich verschlossen, aber dennoch offen für die Interpretationen des Lesers, der, gemäß der Auffassung Montaignes, den zweiten Teil des Weges in Richtung Texterschließung zurücklegen müsse, der Autor selbst könne nur den ersten Teil zurücklegen. Die Leserschaft sollte sich daher eher mit den im vollendeten Werk aufgeworfenen Fragestellungen beschäftigen und nicht mit dessen avant-textes, der für Dupuis hierarchisch untergeordneten „Baustelle“ (Dupuis in Cudré-Mauroux 2013:125) des Texts. Außerdem sei es ihr unangenehm, wenn neugierige Forscher in ihrem „geheimen Labor“ (Dupuis in Cudré-Mauroux 2013:125) herumstöbern. Bei anderen Autoren, hingegen finde sie die Entdeckungen der critique génétique faszinierend. Ihrer Auffassung nach sind es auch die zukünftigen Rezipienten des Werks, die über dessen Fortbestehen entscheiden werden; Autoren könnten dies selbst kaum einschätzen. Als ehemalige Archäologin kommen ihr ihre eigenen Archivbestände wie eine „Archäologie des Seins und des Denkens“ (Dupuis in Cudré-Mauroux 2013:128) vor. Auch im Schreibprozess suche sie nach verschütt liegenden „Schichten“ ihrer selbst. Dupuis sehe sich selbst jedoch nicht als Sammlerin, denn jedes Manuskript in ihrem Archiv behalte seine Einzigartigkeit und sei an eine spezielle persönliche Erinnerung geknüpft.

Persönliche Erinnerungsstücke stehen auch im Zentrum des abschließenden Gesprächs mit dem Schweizer Schriftsteller Christian Haller. Der vor seinem Arbeitszimmer unermüdlich dahinfließende Rhein erinnere ihn an seine Vergänglichkeit und an die Gewissheit, auch mit dem Schreiben nicht gegen den entgegengesetzt, nämlich von rechts nach links, verlaufenden Fluss anzukommen. Aus diesem Grund habe er bereits 2001 seinen Vorlass ans SLA in professionelle Hände übergeben. Seiner Ansicht nach sei ein schöpferisches Werk niemandes ‚Besitz‘ und müsse der Öffentlichkeit zugänglich bleiben. Deshalb habe er sich auch bereits mit Anfang 20 dafür eingesetzt, Adrien Turels Nachlass vor den Händen der nachredigierenden Witwe zu ‚retten‘ und ins SLA zu überführen. Mit der Zeit habe er sein eigenes Archiv aufgebaut, was sich vom SLA in zweierlei Hinsicht unterscheide: Es weise eine „gewachsene Ordnung“ (135) auf, keine im Nachhinein erstellte, und es erfülle immer noch einen pragmatischen Zweck, nämlich möglicher Stoff für weitere Romane. Nach Abschluss jedes Romans bleibe für ihn ein noch nicht sagbarer Rest bestehen, der den Ausgangspunkt für einen weiteren Roman bilde. Als „Katalysator“ (145) für den Schreibprozess dienen ihm die seine gesammelten Erinnerungsstücke, so etwa der rumänische Aschenbecher seiner Großmutter, der ihn zu seiner Trilogie des Erinnerns geführt habe.

Was ist ein Literaturarchiv? Hat man es durch dieses kleine, inhaltlich aber nicht zu unterschätzende und für Fachfremde an manchen Stellen schwer erschließbare Büchlein geschafft, ist klar, was mit seinem Inhaltstext gemeint ist: Das Literaturarchiv gibt es nicht. Literaturarchive sind „Staudämme“ gegen den Strom der Vergänglichkeit, Moby Dick’sche ‚Rettungssärge‘ auf den Fluten des (digitalen) Vergessens. Kollektive Gegenströme, in dem die vielen kleinen wohlgelenkten Erzählflüsse unterschiedlichster Autoren – etwas profaner ausgedrückt, die Vor- und Nachlässe – münden, aber nicht versiegen. Sie können Orte der literarischen Wiedergeburt, des Nachlebens sein; Inspirationsquellen sind sie allemal. Der französische Untertitel "Écrivains et institutions en dialogue" – "Schriftsteller und Institutionen im Dialog" umreißt eine der Grundaussagen dieses Sammelbands: Literaturarchive sind lebendige Orte, deren Stellenwert immer wieder neu verhandelt werden muss.

Andrea Krotthammer, 18.7.2014

Andrea.Krotthammer@student.uibk.ac.at



[1] Sloterdijk, Peter (2011): Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Berlin, S. 513, zitiert in Witz (2013), S. 9-10.

[2] Biasi, Pierre-Marc de (2013) : "Les sentiers perdus de la création". In: Cudré-Mauroux/Wirtz (2013), S. 35-49.

[3] Pomian, Krzysztof (2013): "Kultura et ses archives". In: Cudré-Mauroux/Wirtz (2013), S. 75-89.

[4] Cudré-Mauroux, Stéphanie (2013): "Stéphanie Cudré-Mauroux dialogue avec Sylviane Dupuis. Ce qui dort dans les cartons". In: Cudré-Mauroux/Wirtz (2013), S. 115-130.