Zeyringer

Zwei österreichische Literaturgeschichten „made in A“

Ein Parallelslalom von Clemens Ruthner

Klaus Zeyringer / Helmut Gollner, Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650. Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag 2012. 839 S. ISBN: 978-3-7065-4972-1. Preis [A]: € 39,90.

Wynfried Kriegleder, Eine kurze Geschichte der Literatur in Österreich. Wien: praesens 2011. 600 S. ISBN-10: 3706906651. ISBN-13: 978-3706906654. Preis [A] € 28,50.


“Wer aus einem Buch abschreibt, begeht ein Plagiat, wer aus zehn Büchern abschreibt, verfasst eine wissenschaftliche Arbeit – so lautet ein altes Bonmot, das ich noch ergänzen möchte: wer aus hundert Büchern abschreibt, verfasst eine Literaturgeschichte.” (W. Kriegleder)

Was hier nicht ganz unkokett „Abschreiben“ „aus hundert(en?) Büchern“ genannt wird, ist gleichsam der Triathlon für Philologen: das Verfassen einer Literaturgeschichte, d.h. jahr(zehnt)elanges Lesen, Verarbeiten und Schreiben. Nicht nur der Wiener Germanist Wynfrid Kriegleder selbst, sondern auch seine nomadisierenden Zunftkollegen Klaus Zeyringer und Helmut Gollner haben die dafür nötige Muße und vor allem den Masochismus aufgebracht, weshalb ein Vergleich lohnt: Mussten doch die Autoren nicht nur gegen ihre zahlenmäßige Unterlegenheit im Vergleich zu deutschen Großprojekten anschreiben – wie z.B. jene von Horst A. Glaser und Rolf Grimminger begonnene Parallelaktion von gleich zwei Sozialgeschichten der deutschen (!) Literatur (1980-1991 bzw. 1999), die Österreich bis dato jovial bis kolonial eingemeindet hatten.

Die als Reaktionsbildung entstandenen Bücher von Kriegleder (Eine kurze Geschichte der Literatur in Österreich) und Zeyringer/Gollner (Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650) kämpften auch gegen den Pharaonen-(oder besser: Habsburger-?)Fluch, der bisher auf fast jedem einschlägigen heimischen Projekt zu lasten schien, wobei Ausnahmen die Regel eher bestätigen: Entweder blieben die meisten austriakischen Anläufe zur Literarhistorie im langen 19. Jahrhundert ebenso wie danach “in den Ansätzen stecken oder unbefriedigend” (Z+G, 21). In anderen Fällen war es den Autoren schlichtweg biologisch nicht vergönnt, eine Fertigstellung ihrer Projekte zu erleben. Dies gilt etwa für jene monumental-positivistische Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte, die Eduard Castle nach 40 Jahren Arbeit und dem Tod der beiden anderen Herausgeber J.W. Nagl und Jakob Zeidler 1937 abschloss – kurz bevor der “Anschluss” von 1938 jeden weiteren Folgeband vorläufig erübrigte. Nach etlichen anderen seither gescheiterten Anläufen ist es – so gesehen – allein schon beachtlich, die beiden 600 bzw. 800 Seiten zählenden Bände von Kriegleder und Zeyringer/Gollner überhaupt in Händen zu halten.

Gleich zu Beginn sahen sich die beiden neuen Projekte aber noch mit einem weiteren Standardproblem konfrontiert, nämlich dem Zwang zur Bestimmung ihres Gegenstands – was wohl auch ein historisches Nachfolgesymptom der Identitätskrise des schnitzelförmigen Landes im 20. Jahrhundert ist: Definiert man die österreichische Literatur (post-)imperial, national(istisch) oder regional? (Und je politisch-korrekter man gegen den Kulturimperialismus früherer Literaturgeschichten vorgeht, desto mehr Autoren mit Strahlkraft verliert man potenziell, denn Kafka, Rilke, Celan oder Canetti sind eben nur bedingt “Österreicher” – wohingegen Brecht zu seinem Lebensende wohl einen solchen Pass besaß, aber dennoch nie eingebürgert ward.) Noch problematischer wird es, wenn man gar versucht, das „Österreichische“ essentialistisch zu bestimmen.

Schon in ihrer pragmatischen Antwort auf diese Frage, die sie eigentlich zu umgehen versuchen, sind sich Kriegleder und Zeyringer/Gollner erstaunlich nahe, wenn sie vom Staatsgebiet „der heutigen Republik Österreich“ (K, 13) bzw. von den „habsburgischen Erblanden“ (Z/G, 16) als Lebensmittelpunkt von Autorinnen und Autoren ausgehen. Doch auch das wird Auslegungssache: Zeyringer integriert Kafka und Rilke; Kriegleder lässt beide Autoren weg, dafür findet Celan „als Kind des alten Österreichs“ bei ihm Eingang (456-7), obwohl er nur wenige Monate seines Lebens 1947/48 in Wien verbrachte. Beide Werke erwähnen indes die slowenischsprachige Literatur (Z/G, 693-4; K,  537-8), zumal für Kriegleder „klar“ ist, „dass die verwendete Sprache kein Kriterium sein kann“ (13). (Sie ist es aber doch irgendwie, wie es scheint, denn sonst ließe sich ungestraft Anspruch auf eine ganze Reihe prominenter Exilautoren erheben, wie z.B. Stanislaw Lem, der sich – in den 1980er Jahren – wesentlich länger in Wien aufhielt als weiland Celan.)

Die nächste Klippe für das Österreichische in der Literaturgeschichte stellt der richtige Anfang dar – oder vielmehr dessen Zeitpunkt. Während Zeyringer recht willkürlich mit 1650 beginnt, oder eigentlich 1662, dafür aber gleich mit einer niederösterreichischen Frau (Catharina Regina von Greiffenberg), geht Kriegleder bis zu den Babenbergern zurück – aber wenigstens nicht bis Marc Aurel, wie dies in den 1990ern ein literarhistorischer Obskurant einmal vorgeschlagen hatte. Eigenartig bleibt doch, dass sich keiner der beiden Autoren für eine wirklich pragmatische Lösung entschied: nämlich das Ende des „Heiligen Römischen Reichs deutscher Nationen“ 1806 und die ihm vorausgegangene Ausrufung des „Kaiserthums Österreich“ 1804 (auch wenn man hier zugegebenermaßen schon wieder einen Prolog im Himmel, nämlich die Josefinische Aufklärung, als vorgelagerte Wiener Urszene benötigt).

Von der Methode her sind die beiden literarhistorischen Oeuvres jedenfalls sehr österreichisch – im besten Sinne, denn sie kombinieren die Geschichte von Texten, Autoren und ästhetischen Entwicklungen mit einer sozial- und allgemeinhistorischen Zugangsweise; dies geschieht etwas ausführlicher bei Zeyringer, der lobenswert in den Fußstapfen von Pierre Bourdieu immer auch den zeitgenössischen Literaturbetrieb als Bezugs- und Erzeugungsfolie von Texten einbezieht. Ansonsten lässt sich Kriegleders Bonmot von den „hundert(en) Büchern“ getrost auf beide Projekte beziehen, denn sie haben die extensive Sekundärliteratur der Österreich-Germanistik in den letzten 3-4 Jahrzehnten tatsächlich mit bedacht, ebenso wie sie den Ausschluss weiblicher Autoren aus dem Kanon rückgängig machen und randständige literarische Genres – wie z.B. den Essay oder das Kabarett – integrieren: auf diese Weise findet etwa Josef Hader Eingang in die heimische Literatur (Z/G, 732).

Auch in sprachlicher Hinsicht lässt sich über beide Projekte wenig Böses sagen. Klaus Zeyringer, der französische Germanist aus der Steiermark, bekannt geworden durch seine mutigen Selbstmordanschläge auf die Freunderl-Landwirtschaft im heimischen literarischen Feld, hat seinen launigen Stil erfolgreich gezähmt. Gelungen ist die Verwebung von Literatur und Geschichte; unter den Einzelkapiteln sind z.B. die Seiten zu Stefan Zweig besonders positiv hervorzuheben (Z/G, 551ff.). Als anmutige Strategie erweist sich der narrative Trick Zeyringers, einige der Epochenkapitel mit dem anekdotischen Denkbild einer archetypischen Situation beginnen zu lassen; für 1970-1986/89 ist dies etwa ein Frühstück mit „Staatsschattengewächsen“ (K.M. Gauß) im Hause Kreisky. Kurz lässt hier das steirische Urgestein wieder seine Spottlust aufblitzen:

„Kaisersemmel und Melange, Butter und Honig aufs Gebäck, der Kaffee duftet, man sitzt und redet über Kunst und die Welt, ein belesener Politiker, der mit sozialdemokratischen Volkshochschulen der Zwischenkriegszeit groß geworden ist, und erlesene Dichter, die ‚ein Stück Weges gemeinsam gehen wollen.“ (Z/G, 667)

Impressionistische Momente wie diese finden sicher ihre Kritiker; sie können in einem intellektuellen Traktat wie einer Literaturgeschichte aber durchaus als propädeutische Lockerungsübung für das Folgende wirken, ohne gleich in den Verdacht zu geraten, Verpackungsmaterial für Populärwissenschaft zu werden. Denn neben bekannten Theorien und Einordnungen kommt Zeyringer im notgedrungenen Sekundenstil der Literaturgeschichte – ein paar Seiten pro „wichtigem“ Autor – auch immer wieder mit anregenden Aperçus, wenn er etwa Österreichs literarische Weltkriegsemigration in „resignative“ und „reaktive“ Exilanten einteilt (Z/G, 604) oder von der „Naivitätsverkleidung“ Brigitte Schwaigers spricht (683).

Weniger Glück hat er indes mit seinem Beifahrer auf der Tour de force durch die österreichische Literatur: Helmut Gollner hatte die Aufgabe, in das von Zeyringer didaktisch durchkomponierte und sorgfältig redigierte Textmuseum einzelne intensive Autorenporträts zu stellen – doch leider wirkt das so, als würde man mitten ins Wiener Kunsthistorische wahllos einige etwas ramponierte Kippenbergers hängen. Dies schafft Stilbrüche im Sound dieser Literaturgeschichte, die nicht immer reizvoll sind.

Einige von Gollners Autorenskizzen schrammen nämlich deutlich an der Textsorte vorbei, wenn es etwa über den werbenden Ferdinand Raimund etwas tabloid heißt: „Inzwischen (1819) hatte Raimund sich richtig verliebt: in Toni Wagner, die Tochter des Kaffeehausbesitzers an der Donaukanalbrücke auf dem Weg in die Leopoldstadt (...) Toni, 19 Jahre alt, saß an der Kassa, Schwarm der männlichen Gäste.“ (Z/G, 183) Etwas befremdlich ist auch die häufige polemische Verwendung der 1. Person Plural für Österreich. Oder das apodiktische Schlussurteil zur Jüdin von Toledo: „Die Literaturgeschichtsforschung sieht das Stück meistenteils moralisch. Es ist aber aufregender“ (Z/G, 258). Im Laufe der Jahrhunderte bekommt man jedoch den Eindruck, dass sich auch Gollner warmgeschrieben hat. Sein Abgesang auf das Faustische in der österreichischen Gegenwartsliteratur wirkt anfänglich etwas arbiträr, hat aber einiges an und für sich (Z/G, 787-96) – auch wenn der allerletzte Satz der Literaturgeschichte damit apodiktisch lautet: „Postmoderne ist auch eine Folge von Posthumanismus“ (796).

Es macht jedoch wenig Sinn, die Finger allzu sehr in weitere textuelle Wunden zu legen, deren es auf vielen hundert Seiten auch bei Zeyringer und Kriegleder unweigerlich noch einige gibt. Die Rezensenten sollten aber eher beeindruckt bleiben ob des vollbrachten Titanenwerks, von dem es sicher bald zweite Auflagen geben dürfte. Hier verdiente vielleicht auch eine etwas reduktionistische Passage Kriegleders über den Heiligen Thomas der alpinen „Nestbeschmutzer“, für die Klaus Zeyringer, Hermann Schlösser und Franz Haas in einem früheren Buch das schöne Etikett vom „negativen Nationalismus“ gefunden haben, vielleicht eine kleine Erweiterung:

„Bernhards Stücke sind an der Oberfläche untheatralisch. Es sind meist lange Monologe monomanischer Hauptfiguren, in denen das Bernhardsche Themenrepertoire durchdekliniert wird. Die Protagonisten scheitern unvermeidlich an ihren hohen, selbstgestellten Ansprüchen, unterliegen der Hinfälligkeit ihres Körpers, umkreisen obsessiv einige wenige fixe Ideen, kommen von ihrer Vergangenheit nicht los und unterdrücken ihre Mitmenschen. Häufig enden die Dramen in einer Katastrophe.“ (K, 499)

Insgesamt erfährt man in beiden Literaturgeschichten zwar nicht viel Neues (außer einigen vergessenen Autorennamen, die man nicht kannte, wie z.B. Adolph von Tschabuschnig(g) – Z/G, 285-7). Dieses gesicherte Wissen bezieht man jedoch sehr solide zusammengefasst und gut brauchbar für den Unterricht oder einfach zur Information. Gravierende faktische Fehler wird man kaum finden – wie z.B. dass die Gedichte des Vormärzautors Karl Beck 1838 „für Sozialismus und Zionismus eintreten“ (Z/G, 144). Im Zweifelsfall können die Autoren ihre Kritiker/innen immer mit Recht auffordern, sie mögen doch – durchgängig – etwas Besseres schreiben.

Im Großen und Ganzen sind sich die vorliegenden Literaturgeschichten auch ähnlicher, als man ursprünglich glauben wollte. Richtet sich Kriegleder vor allem explizit an Studierende und die Auslandsgermanistik, gehen Zeyringer & Gollner etwas mehr in die fachliche Tiefe. Die lange und von vielen als schmerzlich empfundene Lücke einer ‚eigenen’ Literaturgeschichte aus und über Österreich kann damit also als geschlossen, der Fluch als gebrochen betrachtet werden.

Das Einzige, was noch sinnvoll zu machen bliebe, wäre eine CD- und/oder internetgestützte Literaturgeschichte Österreichs, die schon in den 1990er Jahren von einem jugendlichen Querulanten dem damaligen Team von Schmidt-Dengler, Zeyringer & Co. vorgeschlagen wurde: die Nutzung eines zeitgemäßen Hypertext-Formats würde es nämlich ermöglichen, die Perspektiven von Autor, Werk und Genre sowie Epochen und Realgeschichte mehrdimensional ineinander zu verweben, anstatt sie in das altmodisch lineare Narrativ eines einzigen Buches zu zwängen. Dies wäre wohl der Quantensprung vom 20. ins 21. Jahrhundert – oder nur eine generationelle Geschmacksache?


Clemens Ruthner

clemens.ruthner@gmail.com

Der Autor lehrt Germanistik und European Studies am Trinity College in Dublin. Er ist Verfasser des Österreichkapitels in der niederländischen Literaturgeschichte Geschiedenis van de Duistalige literatuur na 1945 (erschienen 2007 im Verlag Peeters, Leuven) und betreibt das Zentraleuropa-Blog Delirium clemens im Internet.

Der Text ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung der Langrezension, erschienen in "Literatur & Kritik" Heft 473/474.