Rüther

Literatur und Politik

Günther Rüther: Literatur und Politik. Ein deutsches Verhängnis? Göttingen: Wallstein 2013. 352 S. ISBN 978-3-8353-1233-3. Preis: € 24,90. Rezensiert von Gertrud Maria Rösch

“Ist es ein Zufall der Geschichte, dass wir eine Entspannung zwischen Literatur und Politik zu einem Zeitpunkt konstatieren, wo Deutschland in Grenzen lebt, die sowohl von unseren Nachbarn als auch von uns selbst als endgültig bezeichnet werden?” (9) Das fragt der Verfasser zu Beginn und gibt damit einen Spannungsbogen für das Buch vor, auf dem der Leser nun die ausgebreitete literarische Topographie des 20. Jhs. durchmessen kann. Ihm geht es darum, das Verhältnis von Literaten und Politikern als „ein spannungsgeladenes Gegeneinander“ (15) zu zeigen, innerhalb dessen Literatur – einer Rede Carlo Schmids am 19. September 1965 folgend – Literatur “das Unbedingte suchen“ (zit. 15) solle und in der Kritik, in der Mahnung an das Menschliche ihren ureigensten Rang findet.

Das Paradigma liefert ihm – für die erste Hälfte des Jahrhunderts – Thomas Mann, dem das erste von drei großen Teilkapiteln gilt. Ausführlich faltet er die Positionssuche des Romanciers aus, der „irrlichterte” (52) und der „Eideshelfer” bedurfte, von Günther Rüther treffender “Ueberzeugungsnothelfer” (61) getauft, um seine politische Meinung im Schreiben über sie zu gewinnen: Friedrich II. ist darunter, Tolstoi und vor allem und immer wieder Goethe. Je länger man Rüthers Argumentation folgt, umso mehr wird an dieser Stelle deutlich, was Literatur und Politik verbindet, mindestens im Fall von Mann: Er erschreibt sich Lebenspraxis. Im nachdenkenden Schreiben über Goethe und Tolstoi gewinnt er die Hinwendung zur Gesellschaft und ein Verständnis des Sozialen. Dabei hätte Thomas Mann das in seinem eigenen Roman „Königliche Hoheit“ nachlesen können, denn sein literarisches Alter Ego Klaus Heinrich muss sich die soziale Hinwendung hart erlesen, nachdem er den Kammerdiener Neumann in die akademische Buchhandlung schickt, um einen Packen unschöner Bücher über Nationalökonomie zu beschaffen. Das ist der Anfang für die ernsthafte Arbeit des Prinzen, während er sich vorher nur darauf verstand, “sich hochleben zu lassen”, wie sein künftiger Schwiegervater unwirsch bemerkt. Schreiben als Probehandeln – keiner scheint diesen Weg mehr und öfter geschritten zu sein als Thomas Mann. Günther Rüther sucht nicht die intertextuellen Verflechtungen oder werkimmanenten „Gehalt“, sondern richtet die Lupe des politischen Urteils auf die Autoren (weniger die Autorinnen, von denen nur Ricarda Huch, Anna Seghers und Christa Wolf erwähnt werden). Trotz aller sichtbaren Sympathie zieht er das Fazit, man könne dem hochgeehrten Autor und Nobelpreisträger das Urteil “Wirklichkeitsblindheit” (92) nicht ersparen, wenn man 1949, anlässlich der Goethereden, seine Worte “Ich kenne keine Zonen” liest, das wohl auch einige der Zuhörer an Wilhelms “Ich kenne keine Parteien mehr” vom August 1914 erinnert haben dürfte und die Realität der Besatzungszonen nicht aufheben konnte.

Wie sich die politischen Zäsuren nach 1945 in der persönlichen Biographie niederschlagen, erfährt der Leser in den Lebensabrissen des zweiten Teiles, die in ihrer Anschaulichkeit zu den starken Passagen des Buches gehören; der dritte Teil gerät dank seiner Fülle von Namen und Daten teilweise in den summierenden Schwung des Repetitoriums, bietet aber viele Details. Für die jüngeren LeserInnen, die beim Mauerbau gerade laufen lernten oder noch nicht geboren waren, bringt diese große Umschau Autoren und Ereignisse zur Sprache und rückt Texte ins Blickfeld, die sich viele (die Rezensentin eingeschlossen) auf ihre Liste künftiger Lektüren notieren werden. In diesen Überblickskapiteln entsteht das Gesamtbild, während die Einzelstudien des zweiten Teils die Folgen im Leben des Einzelnen aufspüren. Ein Beispiel ist der XX. Parteitags der KPdSU 1956, auf dem Nikita Chruschtschow mit seinem Vorgänger Stalin abrechnete. Für Franz Fühmann (dazu 124) und Robert Havemann (dazu 117) brach damit eine Welt zusammen. In der Nachzeichung dieser biographischen Pfade beweist der Verfasser seine ganze historisch-literarische Kenntnis und Leidenschaft für den Gegenstand, wenn er die Seitenwege, Sackgassen und „Wandlungen“ (wie sie Franz Fühmann schmerzhaft durchlebte) nachzeichnet.

Gleichermaßen würdigt er Autoren des Exils und der Inneren Emigration, sind doch beides Konsequenzen eines moralischen Verhaltens, „das keine Rücksicht auf die Folgen nimmt“ (104). Seine ganze Sympathie gilt denjenigen, die für ihr Schreiben einstanden, seien es Emile Zola, dessen Rolle im Dreyfus-Prozess er ausführlich darstellt (105f) oder Erich Loest bzw. Herta Müller, denen er jeweils einen biographischen Abriss widmet. Werner Bergengruen, Gottfried Benn und Ernst Jünger würdigt er zu Recht, hochverdienstvoll ist seine Ehrenrettung für den heute wohl vergessen Friedrich Reck-Malleczewen, der im Konzentrationslager Dachau starb (109).

Die verborgene Macht der Literatur wird zwischen den Zeilen deutlich, wenn der Verfasser 1918 das von niemandem beklagte, schier lautlose Zusammenbrechen der Monarchie Wilhelms II. darstellt, das wie eine Parallele zum völligen Kollabieren des zweiten deutschen Staates 1989 erscheint. Diese innere Distanz der Bürger vorbereitet zu haben war auch eine Leistung der Literaten in den Jahrzehnten vor diesen Zusammenbrüchen, die als „Wegbereiter“ (110) anzusehen sind. Daher bricht er zurecht die Lanze für eine ästhetisch ernstzunehmende DDR-Literatur, die für viele „eine wichtige Orientierungshilfe und seelische Stütze“ war (112).

 

Für Günther Rüther gilt der Maßstab der Solidarität und das Eintreten für die persönlichen Überzeugungen, aber diese Messlatte erreichen nicht alle Autoren gleich gut. So lässt er Wolfdietrich Schnurre zu Wort kommen mit der berechtigten Mahnung, dass doch die Gruppe 47 „sich während der Tagung einmal unmissverständlich gegen die Mauer ausgesprochen und zugleich das inhumane Verhalten ihrer mitteldeutschen Kollegen missbilligt“ (135) hätte. Solidarität und politische Parteinahme war nicht Sache der ganzen Gruppe 47, wohl aber einiger Mitglieder, zu denen Günter Grass zweifellos zählt. Wie detailliert der Verfasser hier das Engagement eines Autors verfolgt, das erweckt den Eindruck, als habe dieser Wahlbürger Lübecks erfüllt, was dem ersten Lübecker, von eigenen geistigen Prägungen gehindert, nicht völlig gelang: sich mit ganzem Herzen in die Politik einzumischen. Er bleibt dem Leser dabei sympathisch (251-258), ja man gewinnt den Eindruck, die Teilhabe der Intellektuellen und Schriftsteller sei Rüther fast ebenso lieb und wichtig wie jedes zeitenüberdauernde Werk, das im “machtgeschützten Raum der Innerlichkeit” (13) entsteht. Seinen Standpunkt vertritt Günther Rüther mit Verve, mit Lust an pointierten Formulierungen, mit denen er Oswald Spengler (dazu 43) und Stalins „Kulturfeldwebel“ (155) bedenkt; er warnt, etwa vor der Verklärung und Verharmlosung der SED-Diktatur (168, 194) und regt zum Nachdenken an. Nicht zuletzt trägt zum Lesegewinn bei, dass der Verfasser zu erkennen gibt, wo sein Herz schlägt – beim politischen Engagement, bei der gegenseitigen Hochschätzung, die er Politikern und Literaten ins Stammbuch geschrieben hat.


Gertrud Maria Rösch, 08.10.2013

roesch@idf.uni-heidelberg.de