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Der Kritiker Hermann Sinsheimer

Eine klitzekleine Monographie über einen (fast) vergessenen Kulturjournalisten. Von Michael Pilz


Barbara Hartlage-Laufenberg: Hermann Sinsheimer. Lebensfroher Pfälzer, Jurist und vielseitiger Literat. Berlin: Hentrich & Hentrich, 2012. 66 S. (Jüdische Miniaturen, Bd. 120). ISBN 978-3-942271-56-1. Preis [A]: € 7,10.


Wer war Hermann Sinsheimer? Offenbar und zuallererst ein „lebensfroher Pfälzer“, wenn man dem Titelblatt der jüngst erschienenen Miniaturmonographie von Barbara Hartlage-Laufenberg Glauben schenkt; an zweiter Stelle scheint er „Jurist“ gewesen zu sein, und ein „vielseitiger Literat“ dazu (man vermisst es nachgerade im Untertitel, dieses „dazu“; alternativ könnte man sich auch ein „obendrein“ vorstellen). Nun ja – abgesehen davon, dass sich wohl generell über die Aussagekraft von derelei bemüht prägnanten Etikettierungsversuchen streiten ließe, die komplexe Lebensläufe nach vorgestanzten Mustern journalistischen Schreibens auf möglichst leicht verdaubare Schlagworthäppchen eindampfen (oft ist diese Tendenz auch nur auf die redaktionellen Usancen bei der jeweiligen Buchreihe zurückzuführen), bleibt im konkreten Fall die Frage zu stellen, ob ausgerechnet die „pfälzische Lebensfreude“ wirklich das bezeichnendste Charakteristikum darstellt, um Leben und Werk eines wichtigen deutschen Kulturjournalisten, Literatur- und Theaterkritikers aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf den sprichwörtlichen Nenner zu bringen. Wie treffend darüber hinaus die Bezeichnung „Jurist“ für einen Schriftsteller und Theatermann ist, der sich – wie man dann im Büchlein selbst nachlesen kann – von einer ursprünglich ergriffenen Tätigkeit als Rechtsanwalt weder befriedigt zeigte, noch diesen ungeliebten Brotberuf sonderlich lange ausgeübt hat, mag gleichfalls dahingestellt bleiben; die Schlagwortvergabe scheint jedenfalls mehr über die Interessen und die berufliche Herkunft der Biographin zu verraten als über ihren Gegenstand, vermerkt die Autorennotiz auf S. 66 doch, dass Frau Hartlage-Laufenberg selbst studierte Juristin und bislang u. a. mit Veröffentlichungen zum Thema „Literatur und Recht“ hervorgetreten ist. (Das grundsätzliche Verdienst der Autorin, mit ihrer Publikation an einen heute weitgehend vergessenen Protagonisten des kulturellen Lebens im Deutschland der Zwischenkriegszeit zu erinnern, soll und kann mit diesen Bemerkungen freilich in keiner Weise geschmälert werden. Sinsheimers Biographie wird von ihr bündig nacherzählt, so dass der Leser eine erste umrisshafte Orientierung erhält – d. h. ein Pensum an Informationen, wie es dem geringen Umfang einer „Miniatur“ angemessen ist. Man sollte sich vom Titel also nicht irritieren oder gar abschrecken lassen).

Hermann Sinsheimer selbst hat in seiner 1953 posthum bei Pflaum in München erschienenen und heute nurmehr antiquarisch erhältlichen Autobiographie Gelebt im Paradies – die im vorliegenden Porträt zu Recht ausgiebig zitiert wird – sein größtes Talent in der Tätigkeit als Kritiker erkannt und benannt. Als solcher, und nicht etwa als Romancier oder auch als „Mann des täglichen praktischen Theaterbetriebs“ wollte er sich primär betrachtet wissen (vgl. S. 28), und dies, obwohl er durchaus sowohl im einen wie im anderen Metier mit nennenswerten Leistungen hervorgetreten ist: Die beigegebene Bibliographie verzeichnet immerhin zehn Bände mit Romanen, Erzählungen und Novellen aus Sinsheimers Feder, und auch in der „praktischen Theaterarbeit“ hatte er im Rahmen der Volksbühnenbewegung sowie als kurzzeitiger Leiter der Münchner Kammerspiele Erfahrungen sammeln können. Vor allem verbergen sich hinter der gleichfalls genannten Vielseitigkeit des „Literaten“ aber doch Etappen einer kritischen Journalistenpraxis, deren bloße Nennung Sinsheimers Selbsteinschätzung bestätigt: Hervorzuheben sind v. a. seine Arbeit als Theaterkritiker der Münchner Neuesten Nachrichten, die zeitweilige Chefredaktion der bekannten Satirezeitschriften Simplicissimus und Ulk in den 1920er Jahren sowie die unmittelbare Amtsnachfolge Alfred Kerrs als Theaterreferent des renommierten Berliner Tageblatts, nachdem Kerr im Februar 1933 von den Nazis ins Exil nach England vertrieben worden war. Dieses Schicksal ist schließlich auch Hermann Sinsheimer nicht erspart geblieben – was seine Biographie überdies zu einer exemplarischen für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts macht. Es ist die Biographie eines umtriebigen und engagierten Publizisten, deren Hauptschauplätze lange Zeit die ehemalige, bereits bedenklich angebräunte „Kunststadt“ München mit ihrer Intellektuellenhochburg Schwabing und schließlich die vibrierende „Zeitungsstadt“ Berlin am Ende der Weimarer Republik waren, bevor das Naziregime seine unheilvolle Herrschaft zu entfalten begann und Sinsheimer dazu zwang, sein Berufsleben mit Vortragsreisen durch deutsche Gefangenenlager in seiner neuen Heimat Großbritannien zu beschließen. 1950 ist Hermann Sinsheimer im englischen Exil gestorben.

1933 war der fünfzig Jahre zuvor im pfälzischen Freinsheim als Sohn jüdischer Eltern geborene Autor zunächst noch in Deutschland geblieben – abwartend, wie sich die eben angebrochene Diktatur weiter entwickeln würde, und (da war er nicht der Einzige) vermutlich auch ungläubig über deren länger anhaltende Dauer und die brutalen Konsequenzen, die sie noch zeitigen sollte. Der Ausschluss des Juden Sinsheimer aus dem öffentlichen Leben des Deutschen Reichs vollzog sich dann nach bekanntem Muster. Er begann im September 1933 mit dem Verlust des Arbeitsplatzes beim Berliner Tageblatt und einer Einschränkung der journalistischen Tätigkeit auf die wenigen noch erlaubten rein-jüdischen Publikationsorgane. Immerhin: Sinsheimer war nicht gewillt, sich vorschnell mundtot machen zu lassen; er zählte zu jenen jüdischen Autoren und Journalisten, die beinahe bis zuletzt in dem schmalen Rahmen an Möglichkeiten schreibend und publizierend tätig blieben, den die Nazis ihren Opfern zunächst noch ließen, bevor sie die Kette um deren Hälse immer enger und enger zogen. Erst 1938, im Jahr der Pogromnacht, gelang es dem unter diesen Bedingungen zum überzeugten Zionisten gewandelten Sinsheimer schließlich, über Palästina nach England zu emigrieren.

Seine enge Freundschaft mit dem bereits 1933 ausgebürgerten Heinrich Mann, der Sinsheimer ursprünglich sogar zum testamentarischen Verwalter seines literarischen Nachlasses bestimmt hatte (Sinsheimers erste Ehefrau war zudem Patin von Heinrich Manns einziger Tochter Leonie), ist über diesem anfänglichen Verbleib in Deutschland und der verhältnismäßig späten Emigration auf tragische Weise zerbrochen. Indes: Mag Sinsheimer die Situation in Deutschland 1933 auch falsch eingeschätzt und zunächst sogar ganz handfest von der Vertreibung seines persönlich wenig geschätzten Kollegen Alfred Kerr profitiert haben, indem er die sich daraus ergebende trügerische „Chance“ nutzte und vom undankbaren Posten des ewigen zweiten Mannes im Feuilleton des Berliner Tageblatts endlich zum hauptamtlichen Theaterreferenten dieser Zeitung aufstieg: ein Goebbels-Sympathisant, wie ihm Heinrich Mann in der 1933 bei Querido in Amsterdam publizierten Essaysammlung Der Haß unterstellt, ist Sinsheimer sicherlich nicht gewesen. Vermutungen über die Gründe für das ungewöhnlich hart erscheinende Urteil Heinrich Manns existieren freilich zur Genüge, und es zählt durchaus zu den Vorzügen der vorliegenden Monographie, dass die gerade an dieser Stelle angebrachte kritische Würdigung Sinsheimers von der Autorin nicht etwa zugunsten hagiographischer Beschönigungen geopfert wird. So eng sich Hartlage-Laufenberg in ihrer eigenen Darstellung auch an Sinsheimers Autobiographie anlehnt, verliert sie doch nicht die gebotene Distanz, wenn sie etwa zu bedenken gibt, dass der Kritiker seine persönliche Schilderung der Affäre Heinrich Mann „Jahre später […] geschrieben hat, und zwar so, wie er sein Bild der Nachwelt vermittelt sehen wollte.“ (S. 43 f.)

Augenblicklich ist diese Jüdische Miniatur die einzige selbständige Veröffentlichung, die über Hermann Sinsheimer vorliegt. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, die die Pfälzische Verlagsanstalt 1986 unter dem Titel Schriftsteller und Theaterkritiker zwischen Heimat und Exil herausgegeben und mit einer instruktiven Einleitung versehen hatte, ist längst vergriffen. Mit Ausnahme eines 2009 veröffentlichten Bändchens mit Pfälzer Erzähltexten und Erinnerungen, die freilich eher von lokalhistorischem Interesse sind,[1] gilt dies auch für alle übrigen Bücher, die Hermann Sinsheimer geschrieben hat.

Das übliche Schicksal eines Vergessenen also? Nicht ganz, denn immerhin hat man sich in Sinsheimers Heimatstadt Freinsheim seiner angenommen (möglicherweise auch nur in Ermangelung sonstiger Lokalprominenz, die ihm den Rang hätte streitig machen können – aber umso besser): Außer Sinsheimer-Straße, Sinsheimer-Schule, Sinsheimer-Haus und Sinsheimer-Vitrine in der Stadtbibliothek gibt es seit 1983 in dem pfälzischen 5.000-Seelen-Städtchen auch einen eigenen Sinsheimer-Preis, der im jährlichen Wechsel mit der Vergabe einer etwas geringer dotierten Sinsheimer-Plakette (letztere für  Verdienste um die pfälzische Literatur) an prominente Schriftsteller, Journalisten und Literaturvermittler verliehen wird. Zu den bisher Ausgezeichneten zählen so bekannte Namen wie Walter Jens, Peter Härtling oder Marcel Reich-Ranicki; der letztjährige Sinsheimer-Preisträger war der inzwischen verstorbene Theatermann Ivan Nagel.

Überhaupt: es tut sich was in letzter Zeit in Sachen Hermann Sinsheimer. So ist etwa eine Neuauflage seiner Autobiographie Gelebt im Paradies im Ludwigshafener Pro-Message-Verlag in Vorbereitung. Vor allem aber darf man auf die geplante Sinsheimer-Werkausgabe, die sich im Literaturverzeichnis von Barbara Hartlage-Laufenbergs schmalem Bändchen angekündigt findet und die von der Germanistin Deborah Vietor-Engländer bearbeitet wird, gespannt sein. Zusammen mit einer ebenfalls angekündigten Briefauswahl[2] dürfte sie einen wichtigen Beitrag zur Quellenerschließung für die Erforschung des literarischen Feldes im Deutschland der Zwischenkriegszeit und des Exils leisten. Vor allem könnten die genannten Editionen aber auch die Grundlage für eine erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sinsheimers Werk liefern, die bislang noch kaum erfolgt ist.

 

Michael Pilz, 29.9.2012

Michael.Pilz@uibk.ac.at



[1] Hermann Sinsheimer: Die Welt meines Dorfes. Freinsheimer Erzählungen und Pfälzer Erinnerungen. Nachwort von Josef Kaiser. Ludwigshafen: Pro-Message-Verl., 2009. 132 S.

[2] Der besagte Band ist inzwischen erschienen, war dem Rezensenten jedoch nicht mehr rechtzeitig zugänglich: Die vorliegende Besprechung war gerade fertiggestellt, als das Buch im Verzeichnis lieferbarer Bücher angezeigt wurde. Mit dem Hinweis auf über 750 Seiten inkl. Abbildungen und einem Orts-, Sach- und Personenregister, wirkt die Ankündigung der Edition recht vielversprechend, vgl. Hermann und Christobel Sinsheimer: Briefe aus England in die Pfalz. Bearb. von Hans-Helmut Görtz, Gabriele Giersberg und Erik Giersberg. Neustadt an der Weinstraße: Stiftung zur Förderung der pfälzischen Geschichtsforschung, 2012. XXII, 768 S. (Reihe E: Kleine Quellenreihe, Bd. 1)