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Kanon, Wertung und Vermittlung

Über einen neuen Sammelband zum Thema. Von Stefan Neuhaus


Matthias Beilein, Claudia Stockinger, Simone Winko [Hrsg.]: Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft. Berlin [u.a.]: de Gruyter, 2012. VII, 350 S. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 129). ISBN 978-3-11-025994-0. Preis [A]: € 102,80.


Literatur lesen bedeutet immer auch Literatur bewerten, sei es, dass man einem Freund sagt, „das musst Du lesen!“, oder schimpft: „langweiliges Buch, hat mir überhaupt nicht gefallen“. Damit ist allerdings nur ein persönlicher Eindruck formuliert und keine Begründung gegeben. Wertung fängt auch viel früher an, beim Leser bereits bei der Auswahl, beim Kauf dieses einen Buches und beim Verzichten auf so viele andere. Und um Wertung geht es auch, wenn darüber diskutiert wird, welche Bücher in der Schule gelesen werden sollen oder welche Literatur in einer Gesellschaft zum kollektiven Gedächtnis gehört – spätestens hier sind wir bei der Frage nach dem Literaturkanon. Damit ist das mögliche Fragespektrum kaum angerissen und es leuchtet ein, dass es für alle, die sich nicht nur für Literatur, sondern auch für Literatur als Prozess in einer Gesellschaft, also für Literaturkritik und Literaturvermittlung interessieren, unverzichtbar ist, sich mit Fragen der literarischen Wertung auseinander zu setzen.

Die Frage nach der ‚richtigen‘ oder ‚falschen‘ Literatur ist so alt wie die Literatur selbst, doch die Literaturwissenschaft hat erst in den 1950er und 1960er Jahren begonnen, sich des Themas anzunehmen. In der jüngeren Zeit waren es vor allem die Arbeiten von Renate von Heydebrand und Simone Winko, die Aufsehen erregten, weil sie sich um einen vergleichsweise umfassenden und zudem systematischen Zugang bemühten.[1] Simone Winko hat an dem Thema weiter gearbeitet, so stammt beispielsweise auch ein oft zitierter Beitrag in dem Text-und-Kritik-Band Literarische Kanonbildung von ihr.[2] Die nun vorgelegte Publikation ist, wie einige andere zuvor,[3] ans dem von der Volkswagen-Stiftung geförderten Promotionskolleg „Wertung und Kanon. Theorie und Praxis der Literaturvermittlung in der ‚nachbürgerlichen’ Wissensgesellschaft“ hervorgegangen, das von 2006 bis 2010 an der Universität Göttingen beheimatet war und dem die Herausgeber des Bandes in führender Position angehörten. Es wäre übertrieben zu sagen, dass hier eine Summe aus den Erkenntnissen der Arbeit am Promotionskolleg gezogen wird; dennoch hat die Publikation eines solchen Bandes nach Abschluss des Kollegs zweifellos besonderes Gewicht.

Ein Sammelband ist ein Sammelband, keine Monographie und kein Lexikon – wer etwas anderes als eher lose miteinander verbundene Beiträge erwartet, wird auch hier enttäuscht sein. Allerdings hat die viel und nicht immer zu unrecht geschmähte Gattung des Sammelbandes auch Vorzüge, die in diesem Fall zur Geltung kommen. Die BeiträgerInnen decken biographisch wie inhaltlich ein breites Spektrum ab; vertreten sind jüngere und ältere, ambitionierte und arrivierte WissenschaftlerInnen und sie schreiben aus ganz unterschiedlichen Perspektiven über Wertungs- und Kanonisierungsprozesse, dabei verwenden sie zahlreiche Beispiele aus unterschiedlichen Literaturen und Medien. Einer kundigen Einleitung, die als Einführung in das Thema und als Hinführung zu den Beiträgen konzipiert ist, folgen drei große Abschnitte: „Mechanismen der Kanonbildung: Textuelle und/oder soziale Faktoren?“, „Wertung und Kanon in Institutionen“ sowie „Formen der Literaturvermittlung in der Wissensgesellschaft“.

Schwerpunktbildungen sind unvermeidlich und sie treten bereits in der Gliederung offen zutage. Im ersten Abschnitt – der die titelgebende Frage nach „und/oder sozialen Faktoren“ der Kanonbildung klar mit „beides“ beantwortet – dominieren theoretische Aufrisse, insbesondere wird an Niklas Luhmanns Systemtheorie und das von Jan und Aleida Assmann entwickelte Konzept des kulturellen Gedächtnisses angeschlossen. Mit dem ersten Beitrag von Benjamin Specht wird ganz grundsätzlich die Frage nach sprachlichen Gründen für Wertungsprozesse gestellt und festgehalten, dass es „eines Überschusses an Deutungssignalen“ bedarf, um „Polyvalenz“ erzeugen und ‚privilegierte Lesarten’ ausschließen zu können (S. 24). Hier wie in den weiteren Beiträgen des ersten Teils wird versucht, Kategorien zu finden, doch in der Zusammenschau offenbaren sich diese heuristischen Kategorien als eher zu wenig miteinander kompatibel und nur bedingt aussagekräftig. An manchen Stellen scheint der leidenschaftlich geführte Wettbewerb des Begriffeprägens sogar in die Irre zu führen, etwa wenn Dominic Berlemann den „Zentralcode interessant/langweilig“ als wichtigste, historisch gewachsene Unterscheidung ausruft (S. 80). Was allgemein als ‚langweilig’ gilt, wird traditionell – und provokativ – von der Literatur gepflegt.

Berlemann mag es mit manchem dickleibigen Klassiker von Goethe über Fontane und Thomas Mann bis Robert Musil und Uwe Johnson so gegangen sein wie Hildegunst von Mythenmetz in Walter Moers’ Roman Die Stadt der träumenden Bücher, als Mythenmetz im Gespräch mit Hachmed von Kibitzer erfahren muss, dass der von ihm verschmähte Roman Ritter Hempel eines der geistreichsten Werke der zamonischen Literatur ist, was sich aber nur erschließt, wenn man sich „durch die ersten hundert Seiten [...] gequält“ hat: „So weit war ich in dem Roman nicht vorgedrungen. Ich hatte die langweilige Schwarte, nachdem Danzelot sie mir aufgedrängt hatte, nach hundert Seiten, die ausschließlich aus einer Anleitung zur Lanzenpflege bestanden, entnervt in die Ecke gefeuert.“[4]

Dass im zweiten Großkapitel zu Kanonisierungsinstanzen von Günter Scholdt die – fraglos interessante – Wertungspraxis der Inneren Emigration beleuchtet wird, ist eine jener herausgeberischen Entscheidungen, die wohl der Heterogenität der Beiträge geschuldet ist, die sich manchmal gegen Schubladen sperren. Anita Rockenberger und Per Röcken widmen sich der Editionspraxis und entwickeln einen Fragenkatalog, mit dem man der Bedeutung von Editionen im Wertungsdiskurs näher kommen könnte. Doris Moser liefert eine ebenso kundige wie bündige Einführung in die Kanonisierungspraxis in Österreich – so etwas hätte man sich auch für Deutschland oder die Schweiz gewünscht. Mit Moser lässt sich „Kanonisierung als Selbstvergewisserung einer Gesellschaft“ verstehen (S. 164) und durch die Beobachtung von öffentlich verhandelten Wertungs- und Kanonisierungsakten viel über die Gesellschaft und die jeweilige Literatur lernen. Auch Anja Johannsens Beitrag über die Rolle von Literaturhäusern trifft ins Schwarze und setzt kritische Akzente, wenn sie auf die Gefahr hinweist, dass Literaturhäuser oftmals der Autorinszenierung und dem Verlagsmarketing dienen (S. 182f., 187). Am Ende des Abschnitts steht ein Beitrag von Wolfram Göbel über die Bedeutung des Book-on-Demand-Verfahrens und des Digitaldrucks für die Veränderungen in der Verlagslandschaft und damit vermutlich auch für den Kanon, obwohl hier noch genauere Erkenntnisse fehlen. Göbel hält fest: „Wie alle Technologien, die das literarische Leben beeinflussen, ist die Books on Demand-Produktion janusköpfig. Sie kann kanonisierte Texte dauerhaft verfügbar halten, sie kann in Laienhand zur Auflösung der gewachsenen Buchkultur beitragen“ (S. 235). Vermutlich wird keiner der beiden Extremfälle eintreten, aber es werden wohl beide Tendenzen bei der weiteren Entwicklung eine Rolle spielen.

Das letzte Großkapitel versteht „Wissensgesellschaft“ vor allem unter dem Gesichtspunkt der Erregung von Aufmerksamkeit in den Massenmedien, etwa durch Marketing; insbesondere die Möglichkeiten des Internet werden hier in den Blick genommen. Paratexte werden zunehmend wichtig bei der Vermarktung, wie David-Christopher Assmann zeigt, der allerdings den beispielhaft beleuchteten Autoren und Texten bewussten Umgang mit den Marktbedingungen unterstellt: „Die Vermittlung der Romane über Paratexte wird so als Teil des jeweiligen literarischen Programms lesbar“ (S. 258). Auch Steffen Martus bescheinigt den von ihm näher untersuchten Roman-Autorinnen, dass sie sich erfolgreich im „Feld einer offensiv auf ökonomischen Erfolg zugeschnittenen, generisch hybriden und multimedial anschlussfähigen Form der Literatur“ tummeln (S. 278).

Auf die Literaturkritik im Internet bezogen kommt Thomas Wegmann zu dem die bisherigen Beobachtungen ergänzenden Schluss, dass sich „eine Kombination von jugendlichen Verabredungskulturen und Formen des Selbstmanagements“ beobachten lässt (S. 288), die zu einer „optimierten Form der Selbststeuerung“ führt (S. 291). Stephan Porombka hingegen sieht das im folgenden Beitrag weniger negativ, er unterstreicht gerade die Offenheit und Breite der Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit Literatur im Netz, während Thomas Ernst dafür plädiert, „die Netzliteratur und die Bewertungsprozesse von Literatur zukünftig noch intensiver und differenzierter“ zu untersuchen (S. 319). Bei diesem Thema dürfte wohl noch nicht einmal das vorletzte Wort gesprochen sein.

Besonders innovativ ist der letzte Beitrag des Bandes – Fotis Jannidis untersucht den Diskurs über Computerspiele auf Kanonisierungsprozesse und die Spiele selbst auf ihre Kanonisierbarkeit. Auch bei diesem neuen Genre lässt sich keine Homogenität mehr feststellen, ganz im Gegenteil: „Da die Genres sich an unterschiedliche Spielertypen wenden, gibt es kaum jemanden außer den professionellen Spieleforschern, die über alle Gattungen gleich gut informiert sind. Hinzukommt [sic] der Umstand, dass es einen Bias zugunsten der neueren Spiele gibt“ (S. 344).

Trotz aller Diversifizierung in Leben und Massenmedien – vom Tisch scheint jedenfalls die in den 1990er Jahren beliebte These, die plurale Gesellschaft habe verbindliche Kanonmodelle obsolet werden lassen: „Der Wunsch des Lesepublikums nach Orientierung in der Unübersichtlichkeit der fast kontinuierlich ansteigenden Novitäten, der sich etwa im Erfolg diverser Bibliotheken der SZ, FAZ etc. ausdrückt, zeigt darüber hinaus, dass Kanonisierungsprozesse unabhängig vom Stellenwert des literarischen Erbes in der Gesellschaft eine relevante Größe im Literatursystem der Gegenwart sind“ (Einleitung, S. 9). Oder, wie es Leonhard Herrmann eher normativ-allgemein formuliert: „Nur eine Auswahl aus der prinzipiell unendlichen Menge literarischer Texte (bzw. kultureller Kommunikate) ermöglicht es, dass sich Leserinnen und Leser über Texte austauschen können, da nur so ein bestimmtes Maß an gemeinsamem kulturellen Wissen entstehen kann“ (S. 60).

Statt des Themas ‚Kanon: ja oder nein’ wird in vielen der Beiträge die Frage gestellt, wie „Literatur [...] ihren Wert nicht zuletzt unter Konkurrenz einer Medienwelt erarbeiten“ kann, „die auf den ‚Event’ setzt. Sie hat sich also gegen Fernsehen, Kino und Internet zu behaupten, und die Akteure des Betriebs sind sich dessen durchaus bewusst“ (Einleitung, S. 11). Hier beginnt sich ein Thema abzuzeichnen, das im vorliegenden Band (noch) keine zentrale Rolle spielt, aber zunehmend, auch international, diskutiert wird – die Anpassung der Literatur an andere Produkte der Mediengesellschaft und die zunehmende Ökonomisierung des Literaturbetriebs als Problem.[5] Hinweise gibt es hier bereits, so wird der Rezipient, wie der Rezensent, als „Konsument“ neu gedacht (Einleitung, S. 15). Konsum (von lat. consumere = verbrauchen) könnte aber doch gerade zum kritischen Nachdenken darüber anregen, wie weit das Subjekt überhaupt noch selbst über die Kriterien zu bestimmen in der Lage ist, nach denen es Literatur und andere Medien auswählt. Die Schlüsse von Thomas Wegmanns und Doris Mosers Beiträgen deuten in diese Richtung, Moser gibt zu Bedenken: „Wenn keiner mehr da ist, der Literatur für relevant hält (oder dazu überhaupt noch in der Lage wäre), könnte es durchaus sein, dass sich auch die Selbstvergewisserung des literarischen Feldes erübrigt“ (S. 177). Die Relevanz, die Moser meint, ist gerade nicht die ökonomische.

Der vorliegende Band, wie das Promotionskolleg als Ganzes, hat viel dazu beigetragen, Klarheit in Fragen von Wertungs- und Kanonisierungsprozessen zu bringen. Wie jeder gute Beitrag zu einem Diskurs regt auch dieser dazu an, manches Gelesene weiterzudenken und auf dem nun schon recht eindrucksvoll kartographierten Gebiet weiter zu forschen.


Stefan Neuhaus, 29.9.2012

Stefan.Neuhaus@uibk.ac.at



[1] Vgl. v.a. Renate v. Heydebrand [Hrsg.]: Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart [u. a.]: Metzler, 1998. (Germanistische Symposien-Berichtsbände, Bd. 19); Renate v. Heydebrand, Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation. Paderborn [u. a.]: Schöningh, 1996. (UTB, Bd. 1953).

[2] Vgl. Simone Winko: Literatur-Kanon als invisible-hand-Phänomen. In: Heinz Ludwig Arnold, Hermann Korte [Hrsg.]: Literarische Kanonbildung. München: edition text + kritik, 2002. (text + kritik Sonderband, Bd. IX/02), S. 9-24.

[3] Stellvertretend für andere sei genannt: Matthias Freise, Claudia Stockinger [Hrsg.]: Wertung und Kanon. Heidelberg: Winter, 2010. (Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 44).

[4] Die Stadt der träumenden Bücher. Ein Roman aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen und illustriert von Walter Moers. 9. Aufl. München [u. a.]: Piper, 2007, S. 48.

[5] Vgl. z.B. die Studie von Gary Day und die Rezension dazu im Archiv von literaturkritik.at