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Brauchen wir eine Ethik geistiger Arbeit?

Der Plagiatsforscher Philipp Theisohn überlegt, wie wir literarisches Eigentum auch im digitalen Zeitalter schützen. Von Marc Reichwein

 

Philipp Theisohn: Literarisches Eigentum. Zur Ethik geistiger Arbeit im digitalen Zeitalter. Essay. Stuttgart: Kröner-Verlag 2012. 138 S. ISBN 978-3-520-51001-3. Preis [A]: € 12,30.

 

2009 veröffentlichte Philipp Theisohn Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte. Nun versucht der Experte für literarisches Eigentum mit Blick auf jüngere Plagiatsfälle aus Literatur, Politik und Wissenschaft eine grundlegende Diagnose: Wofür stehen die sich häufenden Konflikte um geistiges Eigentum der Gegenwart eigentlich?

Für Theisohn hat das Thema nur vordergründig eine rein technische Seite. Keine Frage natürlich auch für ihn, dass die „Integration des Computers in den Prozess der literarischen Wissensakquise“ unseren Umgang mit Texten, online wie offline, revolutioniert hat. Werkzeuge wie Volltextsuche, „Copy & Paste“ und die Philosophie von „Open Source“ katapultieren passende Stellen oder gesuchte Zitate immer öfter prompt ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Doch wo Kontexte aufgrund der digitalen Verfügbarkeit von Textstellen gar nicht mehr eingelesen und durchdacht und Gedankengänge kaum mehr nachvollzogen werden brauchen, da gibt es am Ende auch einen „Schwund der angemessenen Aufmerksamkeit für die Schreib- und Denkprozesse, die hinter Texten stehen“. Sie führen mit anderen Worten zu einer schleichenden Entwertung geistiger Arbeit. Spätestens da beginnt: 

Die ethische Dimension

Karl-Theodor zu Guttenberg oder Helene Hegemann sind für Theisohn prominente Exponenten für einen Umgang mit Texten, der auf keinerlei Ethos geistiger Arbeit mehr beruht, sondern allein auf einer medientechnischen Errungenschaft der digitalen Durchlässigkeit, die „auch noch dem Unverständigsten und Unwilligsten schnellen Zugriff“ auf Texte ermöglicht.

Ja, Theisohn sieht in der Digitalisierung ein Einfallstor für die Entwertung geistiger Arbeit. Nein, er leitet daraus keine Vorwürfe an die Digitalisierung ab, sondern die Notwendigkeit einer neuen Ethik. Notwendig geworden dadurch, dass der „Respekt gegenüber der Individualität literarischer Kommunikation“ durch unseren digital beschleunigten Zugriff auf Texte, den mangelnden Nachvollzug der dahinterstehenden Arbeit nachgelassen hat.

Nun kann man mit Recht fragen, ob die „Verwahrlosung im Umgang mit geistigem Eigentum“ wirklich nur der Digitalisierung angelastet werden kann? Den „Schwund der angemessenen Aufmerksamkeit für die Schreib- und Denkprozesse“ gab es doch schon immer – sonst gäbe es nicht all das, was Gérard Genette das Beiwerk des Buches genannt hat: Kapitelüberschriften, überhaupt Einteilungen, Inhaltsverzeichnisse, Register –, all diese Paratexte waren und sind analog ja schon immer dazu angelegt, einen möglichst spontanen und punktuellen Zugriff auf Texte jenseits kompletter Lektüren zu ermöglichen. Und ist die konzentrierte Komplettlektüre von Texten nicht gerade auch im Wissenschaftsbetrieb eher die Ausnahme als die Regel? Angesichts der real existierenden Publikationsflut geistiger Arbeiten sollte man längst vom „impliziten Nichtleser“ (Peter Sloterdijk) sprechen.

Theisohns These, dass unser Umgang mit geistigem Eigentum zu informationstechnisch geprägt und den literarischen oder geisteswissenschaftlichen Texten eigentlich wesenfremd ist, berührt aber dennoch einen wichtigen Punkt. Die Idee, dass die Qualität literarischen Eigentums über die reine Informationsebene, wie sie Prozessoren bedienen, hinausreicht, hatte vor Jahren auch der Medien- und Buchwissenschaftler Dietrich Kerlen formuliert. Es war das Konzept performativer Texte: „Solche Texte haben eine Qualität, die das bloß Informative im engeren Sinne weit übersteigt, genauer: ihm zugrunde liegt, es fundiert. Denn Wissen geht ja nicht von selbst aus den Informationen hervor, sondern bedarf der Kriterien.“

Theisohns These, „dass es Nischen der Entschleunigung geben muss, wenn wir noch von einer menschlichen Ökonomie ausgehen wollen“,  korrespondiert mit der Idee einer „Slow Science“, wie sie der Leipziger Max-Planck-Forscher Jonas Obleser vertritt. Denn ja, es war und ist immer auch ein Qualitätsausweis gewesen, dass (geistes-)wissenschaftliches Arbeiten „Irrgänge“ und „ergebnisloses Suchen“ beinhaltet. Klassische Belesenheit sei insofern immer auch „die Verschwendung zeitlicher und nervlicher Ressourcen“ gewesen. Erst so entsteht „ein Lektüreumfang, bei dem die Zahl der im Grunde ‚nicht verwertbaren’ Seiten die der Treffer nicht selten um ein Vielfaches übersteigt“.

Wie jede Ethik appelliert auch Theisohns Textethik letztlich an die Ebene der Selbstkontrolle. Sie wird keinen zukünftigen Plagiatsfall verhindern, sondern forciert die Idee, dass geistiges Eigentum auf geistiger Arbeit beruht und dass wir diesen Wert im digitalen Zeitalter nur erhalten können, wenn wir uns bewusst machen, was er eigentlich ist – und wie diffizil er funktioniert.

An Theisohns drei Beispielfeldern – Literatur, Politik, Wissenschaft – wird deutlich, wie sehr sich gerade der Raum der politischen Textproduktion von der klassischen Idee geistigen Eigentums in literarischen oder (geistes-)wissenschaftlichen Zusammenhängen unterscheidet: Charakteristisch für den Politikbetrieb sei das Prinzip der Montage von Wissen bis hin zur Einpassung in eine eigene Diktion. Eine prototypische Textsorte für dieses Verfahren sind parteipolitische Postionspapiere, die verschiedene Haltungen, Expertenmeinungen oder Grundsätze zu einem Thema fusionieren. Auch Karl-Theodor zu Guttenberg habe seine „1218 Passagen mit unausgewiesen kopiertem Fremdtext“ nie durchdrungen, sondern sie eben nur wie ein politisches Parteipapier kompiliert.

Und im Bereich der Literatur? Einer Helene Hegemann und ihren Apologeten mag Theisohn das bloße Sampling von zusammengeklaubten und geklauten Textkonvoluten in keiner Weise als postmodernes Verfahren durchgehen lassen: Die Postmoderne habe den Versatzstückcharakter nie um seiner selbst willen kultiviert. Vielmehr stamme die Idee der Aufhebung von eindeutigen Positionen aus der Zeit der Totalitarismen, und sie hatte deren Überwindung zum Ziel. Postmoderne war also ein Stück Machtkritik und Aufbegehren gegen das Dogma der Eindeutigkeit. Und eben gerade kein Freibrief für eine außerliterarisch nicht mehr persönlich verantwortete Literatur. Theisohn schildert in diesem Zusammenhang auch den Fall Kaavya Viswanathan. Bei der ‚amerikanischen Helene Hegemann’ habe man das Plagiat konsequent vom Markt genommen, anstatt es – wie im deutschen Literaturbetrieb – mit einer „Pseudo-Poetik“ (Theisohn) zu legitimieren.

„Plagiatserzählungen“

Plagiate sind mit Theisohn immer Erzählungen, die über die literarische Textebene hinausreichen. Sie entstehen, sobald man sie behauptet, entdeckt, negiert, verteidigt – kurzum: kommunikativ von ihnen handelt. Wann, wo, wie, warum und von wem, das ist laut Theisohn selten Zufall. Selten sind Plagiate nur eine juristische Kategorie; in jedem Fall sorgen sie schon als bloßer Verdacht für „Rumor in der öffentlichen Aufmerksamkeit“. Plagiatserzählungen können als Untergattung des Narrativs ‚Skandal’ angesehen werden. Jüngstes Beispiel war die Kracht-Debatte. Kein Zufall, dass just auf dem Höhepunkt der Aufmerksamkeit um das Buch Imperium auch noch Plagiatsvorwürfe publik wurden. Der Schriftsteller Marc Buhl hatte zwar nur gesagt: „Vieles, was Kracht schreibt, kam schon vor einem Jahr in meinem Buch ganz genauso vor“, aber das P-Wort war erst mal in der Welt. Ein wirksames Schmieröl, mit dem man schon manchen stotternden Skandalmotor zum Laufen gebracht hat. In diesem Punkt scheint ‚Plagiat’ als Schlagwort ein ähnliches Reizlevel erreicht zu haben wie ‚Antisemitismus’ oder ‚Rassismus’. Theisohns Essay ist über die Idee einer Textethik hinaus also auch für jeden Literaturbetriebsforscher anregend zu lesen.

 

Marc Reichwein, 25.06.2012

marc_reichwein@yahoo.de