Glosse

Kleine Kritiker-Typologie

„Manche Menschen lesen überhaupt keine Bücher, sondern kritisieren sie“, hat Kurt Tucholsky festgestellt. Das ist zweifellos ebenso gemein wie schön formuliert und dürfte nur auf eine bestimmte Gruppe von Kritikern zutreffen. Es gibt auch nicht DEN Kritiker oder DIE Kritikerin, sondern ganz verschiedene, vermutlich ebenso viele wie Individuen, die als Kritiker tätig sind. Auch auf Kritiker dürfte der alte Akademikerwitz zutreffen: Zwei Kritiker, drei Meinungen. Zu fragen ist aber, ob es so etwas wie Kritikertypen gibt. Von verschiedenen Autoren von Wilhelm Hauff bis Walter Höllerer gibt es ein Spektrum satirischer Typologien, das ich um einen weiteren Vorschlag bereichern möchte:

1. Der Bemühte: Er liest an jedem Ort und Örtchen, ganz gleich, ob er sitzt oder steht. Literatur ist sein Leben und sein Leben findet nur in der Literatur statt. Wenn er sich ausdrückt, dann in Rezensionen, denn aus der intimen Kenntnis so vieler Bücher erwächst ein nicht zu bremsendes Mitteilungsbedürfnis. In der Regel arbeitet er als freier Kritiker, denn nur wenige Zeitungen oder Zeitschriften sind bereit, ihm die Wertschätzung entgegenzubringen, die er seiner Meinung nach verdient. Das hindert ihn aber nicht daran, jede Kritik zwanzigfach an die verschiedensten Medien zu verschicken, und manchmal wird sie tatsächlich (verkürzt) gedruckt – ein Triumph und Beweis der Richtigkeit seiner Existenz. Noch ist das Geheimnis nicht gelüftet, wovon er seinen Lebensunterhalt bestreitet – vom Entgelt der gelegentlichen Projektaufträge oder VHS-Kurse, von Zuwendungen seiner Eltern oder allein von dem Lehrerinnengehalt seiner Frau?

2. Der Enthusiast: Er ist die Steigerungsform des Bemühten, seine Liebe gilt aber nicht nur der Literatur, sondern allem, für das er sich begeistert, und er kann sich für vieles begeistern – für Wein und gutes Essen, für Freunde und Frauen (als Kritikerin natürlich für Männer), für geschlechtsspezifische Assecoires (wie Autos oder Kleidung). Das, wofür er sich nicht begeistern kann, ignoriert er einfach – das erlaubt es ihm, sich ganz auf seine Favoriten zu konzentrieren. Ähnlich verhält er sich in seinen Sozialbeziehungen – wer sich wie er für das gleiche begeistern kann oder, noch besser, sich für ihn und seine Begeisterung begeistert, hat seine volle Aufmerksamkeit, die anderen werden nicht einmal mit Verachtung gestraft. Glücklich und segenspendend für das, worauf er sein Licht scheinen lässt, schreitet er durch die Literaturlandschaft.

3. Der Überzeugte: Er ist der Missionar unter den Kritikern, zu Großkritikern wie Marcel Reich-Ranicki oder Iris Radisch hat er (sofern er nicht MRR oder eine Sie ist und mit Namen Iris Radisch heißt) daher ein ambivalentes Verhältnis – einerseits möchte er so sein, andererseits haben die anderen genau das erreicht, was ihm eigentlich zusteht. Einige Bücher reißen ihn zu Begeisterungsstürmen hin, der größere Teil jedoch vermag ihn nicht zu befriedigen und dies verkündet er ganz offen und überall, gegenüber jedem, ganz gleich, ob der Monologpartner dies hören will. Weil er so sehr von sich überzeugt ist, findet er immer jemanden, der ihn protegiert – nichts wirkt auf literaturunkundige Manager (eigentlich eine tautologische Formulierung) so überzeugend wie Selbstüberhebung.

4. Der Zweifler: Er ist das Gegenstück zum Überzeugten, denn er zweifelt an allem und jedem, an jedem Buch, jedem Autor und natürlich auch an sich selbst und seinem Urteil. Seine Kritiken schreibt er mehrfach um und ist nie mit ihnen zufrieden, entsprechend selten schreibt er selber welche. Je nach Glück, Zufall und Zeitpunkt, an dem er das Zweiflerstadium erreicht hat, ist er entweder freier Kritiker mit Brotberuf (oft arbeitet er als Hochschul- oder als Schullehrer) oder er ist Redakteur und beschränkt sich hauptsächlich darauf, Kritiken anderer ins Blatt zu heben, immer mit dem Zweifel, welche Kritiken er auswählen und ob er sie umschreiben, kürzen oder sonstwie verändern soll.

5. Der Redliche: Stets versucht er, möglichst viel über einen Autor und das zu rezensierende Buch zu erfahren, um diesem möglichst gerecht zu werden. Seine Worte wählt er sorgsam, am Schluss seiner Arbeit hat er das gute Gefühl, das Richtige getan zu haben. Meist ist er ausgeglichen, manchmal regt er sich auf und verreißt ein Buch oder lobt es über den grünen Klee, aus dem Gefühl heraus, dass das ab und zu von ihm erwartet wird. Auch danach hat er das Gefühl, seine Pflicht getan zu haben und die nächste lange Phase ruhigen Arbeitens, sorgsamen Abwägens kann beginnen.

6. Der Arbeiter: Zur Literatur hat er ein gänzlich unerotisches Verhältnis. Am liebsten sind ihm Buchanzeigen, die er ins Blatt hebt, und wenn er selber schreibt, dann wird nicht viel mehr als eine ausführliche Buchanzeige daraus. Er eckt dafür nicht an, er wird von vielen geschätzt und hat keine Feinde. Nach Arbeitsende lässt er auch geistig den Stift fallen, dann treibt er Sport oder geht seinen anderen Hobbys nach, denn für sie lebt er eigentlich.

Die Liste wäre zweifellos zu verlängern, hybride Formen wären zu formulieren. Ohnehin ist alles im Fluss und der Kritiker muss sich angesichts der steigenden Frequenz, mit der er sein Tun rechtfertigen muss, schon lange fragen, ob er nicht einer aussterbenden Spezies angehört. Aber bis jetzt lebt er noch und legt Zeugnis ab davon, dass er wichtig ist – und außer ihm auch die Literatur, denn ohne sie wäre er ja kein Kritiker.

 

Stefan Neuhaus (Innsbruck)

stefan.neuhaus@uibk.ac.at
 

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Ich zähle nicht mehr, wie viele Mails jeden Tag in meiner Mailbox landen. Auch nach Abzug aller "Buy 0815-Software-" und "enlarge your penis"-Appelle bleibt zuviel übrig, was gelesen werden sollte. Und wenn schon nicht gelesen, dann wenigstens weggeordnet.