Vorgestellt: Verstehen, was uns fremd ist

Einen interdisziplinären Blick auf die Kirchengeschichte zu werfen, ist ein Herzensanliegen von Günther Wassilowsky, Theologe und Professor für Patrologieund Kirchengeschichte. Seit März 2014 forscht und lehrt er am Institut für Bibelwissenschaften und Historische Theologie.
Günther Wassilowsky
Günther Wassilowsky forscht und lehrt am Institut für Bibelwissenschaften. (Bild: G. Wassilowsky)

Wassilowsky vertritt einen dezidiert kulturgeschichtlichen Ansatz innerhalb seines Faches und versucht, mit kulturwissenschaftlichen Methoden, neue Zugänge zu klassischen Themen der Konfessions-, der Papst- und Konziliengeschichte zu schaffen. Der symbolischen Dimension von Verfahren der Entscheidungsfindung, den Inszenierungen, Ritualen und Frömmigkeitspraktiken insbesondere in der Epoche der Frühen Neuzeit gilt sein primäres Forschungsinteresse. „Studierende haben zunächst oft einen großen Respekt vor Lehrveranstaltungen zur Kirchengeschichte, weil sie davon ausgehen, dass sie dafür unzählige Jahreszahlen auswendig lernen müssen. Aber darum geht’s mir gar nicht, sondern viel mehr darum, die Funktionsweisen und religiösen Vorstellungswelten vergangener Gesellschaften zu verstehen und so ein hermeneutisches Denkvermögen zu entwickeln“, erklärt Wassilowsky sein Fach, für das er mit seiner offenen Art zu begeistern weiß. Der Wissenschaftler betont, dass es ihm wichtig sei, religiösen Menschen aus anderen Zeiten, Kulturen und Religionen mit der Haltung der Wertschätzung und des Verstehens zu begegnen. „Das Studium der Kirchengeschichte macht einen mit der ungeheuren Vielfalt christlicher Traditionen vertraut. Es ist eine gute Schule, andere Sichtweisen einzuüben. Deswegen sollten wir in der Geschichte auch nicht nur danach suchen, was ähnlich zu unserer heutigen Gesellschaft ist, sondern gerade das Fremde und Andere anschauen – das ist das Interessante“, veranschaulicht der Theologe und Historiker.

Erste internationale Meetings

Kirchengeschichte sehr interdisziplinär anzulegen und andere, neue Deutungsschemata für die Interpretation von religiöser Geschichte anzuwenden, ist für Wassilowsky besonders wichtig. Ein zentrales Forschungsgebiet, mit dem sich der Kirchenhistoriker intensiv auseinandersetzt, ist die Untersuchung von Konzilien, Zusammenkünfte von wichtigen Entscheidungsträgern in der Kirchengeschichte: „Gerade bei der Entscheidungsfindung auf Konzilien geht es um die Kommunikation zwischen Menschen. Das sind soziale Events, bei denen es darum geht, wie Kommunikation gestaltet wird und was diese bei den Menschen verändert.“ Wassilowsky interessiert sich ganz besonders für historische Ereignisse, bei denen eine Gruppe von Menschen zusammenkommt, um eine Entscheidung zu treffen. „Die inhaltlichen Ergebnisse solcher Beratungen und Entscheidungsfindungen zu untersuchen, das wäre der klassische Weg. Neu ist mein Zugang insofern, da ich mir eher die Form anschaue – also untersuche, wie die Kommunikation innerhalb des Kollektivs strukturiert wurde und was die Form der Kommunikation über das Selbstverständnis der entscheidenden Gruppe aussagt. Die Form ist mir wichtiger als der Output – und das ist das Neue“, skizziert der Theologe seinen Zugang.

Konzilien, deren Teilnehmerkreis sich im Lauf der Jahrhunderte stark verändert hat, waren seit jeher für die Orientierung der Kirche besonders wichtig. Aber Wassilowsky betont auch, dass man sich nicht vorstellen darf, dass diese Ereignisse, bei denen die Neuausrichtung von Glaubenswelten, Frömmigkeitspraktiken oder Kirchenstrukturen diskutiert wurden, eine rein innerkirchliche Bedeutung gehabt hätten. Die Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben seien immer schon stark gewesen, da auch beispielsweise Fürsten oder Vertreter von Universitäten an Konzilien teilgenommen haben: „Konzilien waren die ersten internationalen Umschlagplätze, an denen sich bereits im Mittelalter Vertreter aus ganz Europa an einem Ort zu einer bestimmten Zeit getroffen haben, um einerseits eine Sache zu debattieren und um andererseits ihre eigene Stellung in vielfachen symbolischen Formen zum Ausdruck zu bringen. Deshalb waren diese Ereignisse nicht nur kirchenhistorisch relevant, sondern strukturbildend für eine gesamte Epoche.“

 Von loyaler Verbundenheit und traditionellem Networking

Ein Verfahren der Entscheidungsfindung hat in der katholischen Kirche einen besonderen Stellenwert – die Papstwahl. Auch damit hat sich Wassilowsky im Verlauf seiner wissenschaftlichen Karriere intensiv beschäftigt und ein dickes Buch verfasst. „Auch heute übt das Konklave eine große Faszination nicht nur bei katholischen Gläubigen auf der ganzen Welt aus. Wie geht die hinter verschlossenen Türen stattfindende Wahl eines einzelnen Menschen in das Amt des Stellvertreters Christi auf Erden vor sich?“, so der Theologe, der für seine Forschungen viele Jahre in vatikanischen Geheimarchiven verbracht hat.

Der Wissenschaftler merkt an, dass eine ungeheure Fülle von Quellenmaterial zur Erforschung der Papstwahlen zur Verfügung stünde: „Es war ab dem Spätmittelalter üblich, dass die Kardinäle ihre Diener, die so genannten "conclavisti", in das Konklave mitnehmen durften. Diese haben während des Konklaves fleißig mitgeschrieben und ihre Berichte anschließend gewinnbringend verkauft. Das ist eine wunderbare Quellengattung!“ Die bei der Papstwahl angewandten Praktiken und Verfahren seien historisch sehr variabel gewesen. Wassilowsky erklärt sich das so, dass sich auch die Vorstellungen, wie ein idealer Papst sein sollte, im Lauf der Zeit verändert haben. Daher sei es nicht verwunderlich, dass sich auch die Verfahren zur Ermittlung eines neuen Papstes verändert hätten. Wassilowsky erklärt, dass die wählenden Kardinäle immer von den Vorgängerpontifikaten bestimmt werden: „Damit stellt der amtierende Papst sicher, dass nach seinem Tod, im künftigen Konklave, möglichst viele seiner Familie gut gesinnte Papstwähler sitzen.“ Interessant ist, dass diese Praktik immer noch Geltung hat und auch heute noch Entscheidungsfindungsprozesse des Papstes beeinflusst: „Wenn Papst Franziskus beispielsweise heute einen neuen Kurs in der katholischen Familienlehre einschlagen möchte, dann hat er mit Kardinälen und mit Bischöfen zu kämpfen, die vom Vor- oder Vorvorgängerpapst kreiert wurden. Da sie diesem und seinen Interessen noch verpflichtet sind, können oder wollen sie vielmals neue Wege nicht mitgehen.“ Diese Netzwerke von Dankbarkeit und Verpflichtung waren und seien in diesem Umfeld immer noch besonders ausgeprägt. „Der Unterschied zur heutigen Zeit ist nur, dass in der Vormoderne diese Netzwerke selbstverständlich offen gelegt wurden. Heute funktioniert das noch genauso, nur verdecken wir diese informellen Seilschaften. Da ist es legitim zu fragen, was eigentlich ehrlicher ist: indem man sagt‚ ok so funktioniert das hier und das lege ich auch offen, oder wenn wir so tun, als ob es diese Netzwerke heute überhaupt nicht gäbe“, so Wassilowsky.

Dem Theologen und Historiker ist es wichtig, „in der Kirchengeschichte nicht in erster Linie moralische Werturteile über historische Phänomene zu fällen – da muss man Moraltheologe oder Ethiker werden. Unsere gegenwärtigen Wertvorstellungen können die Wahrnehmung von fremden, vergangenen Wertvorstellungen verstellen. Mir geht es vielmehr darum, die Praktiken der Menschen in anderen Epochen beschreibend zu verstehen und zu erklären“, bringt der Wissenschaftler eines seiner Anliegen auf den Punkt. In seinen Forschungen analysiert er, warum Menschen bestimmte Praktiken ausführen und erlaubt sich erst in einem zweiten Schritt, eine Meinung dazu zu äußern oder dies zu kritisieren. „Selbstverständlich darf man irgendwann auch sagen, ob und warum man – vor dem Horizont gegenwärtiger Wertvorstellungen – etwas gut oder schlecht findet. Aber die Geschichtswissenschaft hat zunächst die Aufgabe, ohne moralische Werturteile zu begreifen, warum Menschen einmal so gelebt haben“, unterstreicht Wassilowsky.

 Zur Person

Günther Wassilowsky wurde 1968 in Hechingen geboren und studierte in Freiburg i.Br. und Rom die Fächer Theologie, Germanistik und Geschichte. 2001 wurde er an der Universität Freiburg bei Peter Walter mit einer Arbeit über den Beitrag Karl Rahners zum II. Vatikanischen Konzil promoviert, für die er den „Karl-Rahner-Preis für theologische Forschung“ erhielt. Nach zwei Jahren als Studienleiter an der Akademie des Bistums Mainz wurde er 2004 Mitglied des Sonderforschungsbereiches 496 an der Universität Münster und habilitierte sich dort im Jahr 2007 bei Hubert Wolf mit einer Studie zu Technik und Symbolik des frühneuzeitlichen Papstwahlverfahrens. 2008 erhielt er seinen ersten Ruf auf den Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der KTU Linz und war dort Institutsvorstand bis er im März 2014 an die Universität Innsbruck wechselte.