Quantenchaos in ultrakalten Gasen entdeckt

Auch einfache Systeme wie neutrale Atome können chaotisches Verhalten zeigen. Das hat ein Team um Physikerin Francesca Ferlaino mit Hilfe der Quantenmechanikentdeckt. Die in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichte, bahnbrechende Forschungsarbeit eröffnet neue Wege, die Wechselwirkung von Quantenteilchen zu betrachten.
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Quantenchaos in ultrakalten Gasen entdeckt (Illustration: Erbium Team)

Ein Team um START- und ERC-Preisträgerin Francesca Ferlaino vom Institut für Experimentalphysik der Universität Innsbruck hat erstmals den experimentellen Nachweis für chaotisches Verhalten von Teilchen in Quantengasen erbracht. „Wir sehen zum ersten Mal Quantenchaos im Streuverhalten ultrakalter Atome“, freut sich Ferlaino. Die Physiker haben dieses Ergebnis unter Zuhilfenahme der Zufallsmatrixtheorie (engl.: Random Matrix Theory) nachgewiesen und belegen damit den universellen Charakter dieser statistischen Theorie, welche in den 1950er-Jahren von Nobelpreisträger Eugene Wigner zur Beschreibung von komplexen Systemen formuliert worden war. Obwohl die Wechselwirkung von Neutronen mit Atomkernen damals noch nicht genau bekannt war, konnte Wigner durch die Verwendung von Zufallsmatrizen zuverlässige Aussagen zu den Eigenschaften des komplexen Spektrums treffen. Diese sogenannte Zufallsmatrixtheorie findet heute in der Physik breite Anwendung, aber auch in der Zahlentheorie, der drahtlosen Nachrichtentechnik oder im Finanzmarktmanagement, um nur einige Bereiche zu nennen. In der Bohigas-Giannoni-Schmit-Vermutung wurde die Zufallsmatrixtheorie auch mit chaotischem Verhalten in quantenmechanischen Systemen in Verbindung gebracht. Der im Vorjahr verstorbene katalanische Physiker Oriol Bohigas gilt als Vater dieser Quantenchaos-Forschung.

Chaos in der Quantenwelt

Erbium Team

Das Erbium Team (v.l.): Kiyotaka Aikawa, Albert Frisch, Simon Baier, Michael Mark und Francesca Ferlaino (Foto: Erbium Team)

 

Um Quantenchaos zu beobachten, kühlen die Physiker im Labor an der Universität Innsbruck Erbiumatome auf wenige hundert Nanokelvin ab und bringen sie in eine Laserfalle ein. Mit einem Magnetfeld beeinflussen sie das Streuverhalten der Teilchen und bestimmen nach einer kurzen Haltezeit die in der Falle verbliebenen Atome. So wissen die Forscher, bei welchem Magnetfeld sich zwei Atome zu einem schwach gebundenen Molekül verbunden haben. Man spricht dort von sogenannten Fano-Feshbach-Resonanzen. Die Physiker wiederholten das Experiment mit verändertem Magnetfeld 14.000 Mal und fanden nahezu 200 Resonanzen. „Wir waren fasziniert davon, wie viele solcher Resonanzen wir fanden. Das ist ohne Beispiel in der Physik ultrakalter Quantengase“, berichtet Albert Frisch aus dem Team von Francesca Ferlaino. Um die hohe Dichte an Resonanzen erklären zu können, griffen die Physiker zu statistischen Methoden. Mit der Zufallsmatrixtheorie von Wigner lässt sich nämlich zeigen, dass die unterschiedlichen Molekülniveaus miteinander gekoppelt sind. Dies bestätigten auch entsprechende Computersimulationen der Forschungsgruppe um Svetlana Kotochigova von der Temple University in Philadelphia, Pennsylvania, USA. „Die besonderen Eigenschaften von Erbium führen zu einem sehr komplexen Bindungsverhalten zwischen den Teilchen, das als chaotisch beschrieben werden kann“, erklärt Ferlaino. Erbium ist vergleichsweise schwer und besitzt einen stark magnetischen Charakter, wodurch die Wechselwirkung der Atome stark richtungsabhängig ist. „Die Elektronenhüllen dieser Atome gleichen keinen Kugelschalen, sondern sind stark verformt“, erklärt Albert Frisch. „Die Art der Wechselwirkung zweier Erbiumatome unterscheidet sich dadurch maßgeblich von bisher untersuchten Quantengasen.“

Chaos im Labor studieren

Im Gegensatz zur Alltagssprache verstehen die Physiker unter Chaos nicht Unordnung, sondern ein wohl geordnetes System, das aber aufgrund seiner Komplexität ein nicht vorhersagbares Verhalten zeigt. „Für das Verhalten eines einzelnen Atoms können wir in unserem Experiment keine genaue Aussage treffen, mit Hilfe von statistischen Methoden lässt sich aber sehr wohl das Verhalten aller Teilchen beschreiben. Uns steht damit ein sehr gut kontrollierbares Experiment zur Verfügung, um chaotische Prozesse genauer zu studieren“, ist Ferlaino über diesen Durchbruch begeistert. Sie vergleicht die Methode mit den Gesellschaftswissenschaften, die gute Aussagen über das Verhalten einer größeren Gemeinschaft von Menschen treffen können, während die Beurteilung der Beziehung einzelner Personen der Psychologie überlassen werden muss. Mit dieser Arbeit wird auch eine Brücke zur Untersuchung von ultrakalten Gasen aus Molekülen und damit zur ultrakalten Chemie geschlagen. „Wir eröffnen hier ein neues Kapitel in der Welt der ultrakalten Quantengase“, ist Francesca Ferlaino überzeugt.

Das Experiment und die statistische Analyse wurden am Institut für Experimentalphysik der Universität Innsbruck durchgeführt. Theoretische Unterstützung kam von John L. Bohn vom Joint Institute for Laboratory Astrophysics in Boulder, Colorado, und dem Team um Svetlana Kotochigova an der Temple University in Philadelphia, Pennsylvania. Das Innsbrucker Team wurde vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF und dem europäischen Forschungsfonds ERC finanziell unterstützt.