Hilfsbereitschaft ist rational begründbar

Seit 1970 legen sozialpsychologische Arbeiten nahe, dass die Anwesenheit anderer Menschen in einer Notsituation Hilfsbereitschaft und Verantwortungsbewusstseindes Einzelnen verringert. Tobias Greitemeyer und Dirk Mügge steuern nun mit ihrer dreiteiligen Untersuchung neue Überlegungen zum Forschungsgebiet bei. Sie berichten darüber im British Journal of Social Psychology.
Die menschliche Hilfsbereitschaft sinkt dann, wenn der eigene Beitrag als überflüssig …
Die menschliche Hilfsbereitschaft sinkt dann, wenn der eigene Beitrag als überflüssig erachtet wird. Foto. istockphoto.com

Wenn eine Notsituation von mehreren Personen beobachtet wird, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit jedes Einzelnen zu helfen. In der Sozialpsychologie spricht man vom sogenannten Zuschauer- oder Bystander-Effekt. Dieser wurde 1970 – initiiert durch einen spektakulären Mordfall, bei dem von 38 Augenzeugen keiner eingriff – in den USA erstmals wissenschaftlich fundiert untersucht. Seit damals erklären zahlreiche einschlägige Arbeiten das Phänomen damit, dass die Anwesenheit anderer die Hilfsbereitschaft des Individuums verringert. Eine aktuelle Studie von Univ.-Prof. Dr. Tobias Greitemeyer und Dipl.-Inform. Mag. Dirk Mügge vom Institut für Psychologie der Universität Innsbruck hebt einen neuen Aspekt hervor. In drei verschiedenen Experimenten, die mit Psychologiestudierenden durchgeführt wurden, zeigen die beiden Innsbrucker Sozialpsychologen, dass die Inaktivität der Zuschauer auf rationalen Überlegungen beruht, und Zuschauer sehr wohl bereit sind zu helfen, wenn sie erkennen, dass in einer Situation die Hilfe mehrerer Personen gefragt ist.

Zuschauer helfen, wenn es nötig ist

„Wir haben vermutet, dass der Bystander-Effekt nicht eintritt, wenn mehrere Helfer benötigt werden“, erläutert Dirk Mügge eine Grundannahme der im British Journal of Social Psychology veröffentlichten Untersuchung. Die Wissenschaftler gingen im ersten Teil ihrer Studie davon aus, dass die menschliche Hilfsbereitschaft dann sinkt, wenn der eigene Beitrag als überflüssig erachtet wird. Entsprechend erhielten die Versuchsteilnehmer, die zur Teilnahme an einer webbasierten Befragung aufgerufen wurden, unterschiedliche Informationen über die Situation: Eine fiktive Psychologiestudentin bat per E-Mail ihre Kolleginnen und Kollegen, an ihrer Untersuchung zum Thema Gedächtnis teilzunehmen, wobei einem Teil der Versuchsteilnehmer vermittelt wurde, sie allein würden dieses E-Mail erhalten, die anderen hingegen erfuhren, dass es noch weitere Adressaten gebe.
Darüber hinaus wurde einigen Empfängern mitgeteilt, dass nur mehr eine Rückmeldung fehle, um die Studie zu komplettieren. Andere wiederum erhielten die Information, dass insgesamt 100 Rückmeldungen für die Fertigstellung benötigt würden. „Die Auswertung zeigte tatsächlich, dass der Bystander-Effekt nicht eintrat, wenn mehrere Rückmeldungen benötigt wurden“, hebt Tobias Greitemeyer ein zentrales Ergebnis hervor.

Mehr benötigte Hilfe fördert Verantwortungsbewusstsein

Mit zwei weiteren Experimenten wollten Tobias Greitemeyer und Dirk Mügge die psychologischen Abläufe genauer klären, die dem Bystander-Effekt zugrunde liegen. Im Mittelpunkt stand insbesondere die Frage, unter welchen Bedingungen es bei den Zuschauern zu einer Diffusion der Verantwortung kommt. „Wir waren der Meinung, dass Zuschauer bei einer Notsituation die eigene Verantwortlichkeit, Hilfe zu leisten nur dann abgeben, wenn sie Hilfe für entbehrlich hielten“, beschreibt Dirk Mügge die zweite Arbeitshypothese. Demzufolge machen Zuschauer ihre Hilfe sowohl von der Anzahl der Personen abhängig, an die ein Hilfeaufruf ergeht, als auch von der subjektiven Einschätzung, wie viele Helfer insgesamt für eine ‚erfolgreiche Hilfe‘ benötigt werden. „Obgleich unsere Experimente unter beschränkten Kommunikationsbedingungen erfolgten, lassen sich daraus praktische Maßnahmen zur Erhöhung der Hilfsbereitschaft auf Basis rationaler Überlegungen ableiten“, fasst Mügge zusammen.

Publikation: Rational bystanders. Tobias Greitemeyer, Dirk Mügge British Journal of Social Psychology: DOI: 10.1111/bjso.12036