Die Macht der Sprache(n)

In einer Langzeitstudie widmet sich die angewandte Sprachwissenschaftlerin Ulrike Jessner-Schmid der Entwicklung des Sprachbewusstseins beiSprachverlust. Die Kompetenz, mehr Sprachen zu sprechen, ist nicht nur als Werkzeug in einer globalisierten Welt von Vorteil. Mehrsprachigkeit fördert auch andere Fähigkeiten und trainiert das Gehirn.
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Empirische Studien belegen den positiven Effekt des bilingualen Unterrichts. (Bild: istockphoto.com)

Keiner zweifelte je an der Macht der Sprache, ist sie doch unser wichtigstes Instrument zur Kommunikation. Doch wer hätte gedacht, dass Sprache viel mehr ist als reines Kommunikationsmedium? Ein neuer Blick auf die Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit seitens der Wissenschaft aus dem angloamerikanischen Raum zeigt, dass sie einen profunden Effekt auf das Gehirn hat, die kognitiven Fähigkeiten verbessert und im Alter vor Demenz schützt. Die Relevanz der Mehrsprachigkeit erkannte auch die österreichische Wissenschaftlerin Univ.-Prof. Dr. Ulrike Jessner-Schmid vom Institut für Anglistik der Universität Innsbruck und folglich steht die Mehrsprachigkeit mit all ihren Facetten im Zentrum ihres Forschungsinteresses. Aktuell betreut sie als wissenschaftliche Leiterin eine Studie an der Uni Innsbruck, die im März letzten Jahres gestartet ist. LAILA – so der Titel des Projekts – ist eine sprachwissenschaftliche Langzeitstudie, in der es darum geht, he- rauszufinden, wie man Sprachen, die man gelernt hat, vergisst oder auch bewahrt, und welche kognitiven Auswirkungen das Lernen, Vergessen oder Erinnern einer Sprache hat. „LAILA ist ein Akronym für Linguistic Awareness in Language Attriters, auf Deutsch würde man vom Sprachbewusstsein bei Sprachverlust sprechen“, erklärt Jessner-Schmid den Projekttitel. In der Schule lernt man eine Sprache, weiß sie anzuwenden, kennt die Wörter und die grammatischen Strukturen, doch sobald der Lernprozess unterbrochen oder die Sprache nicht mehr benutzt wird, ist die Sprache nicht mehr vorhanden. Man spricht dabei vom Sprachverlust, also dem Vergessen oder Verlernen einer Sprache. Das Sprachwissen kann nicht mehr derart aktiviert werden, wie man es im Schulkontext gewohnt war. „Es geht uns darum, was mit den Sprachkenntnissen von mehrsprachigen Personen passiert, wenn sie die Sprachen nicht mehr lernen oder nicht mehr benutzen. Zudem ist es für uns als Sprachwissenschaftlerinnen erheblich, ob sie bestimmte während des Spracherwerbsprozesses angeeignete Fähigkeiten besitzen und ob diese konstant bleiben, obgleich sich ihre Sprachkompetenz verändert“, so Jessner-Schmid über die Fragestellungen der Studie. Das Interesse am Sprachverlust entstand für die Forscherinnen rund um Jessner-Schmid durch die Beschäftigung mit Spracherwerbsprozessen in Anwendung der dynamischen Systemtheorie, die eine ganzheitliche Perspektive des Sprachenlernens vermittelt. Innerhalb der dynamischen Systemtheorie spielen aber nicht nur Spracherwerbsprozesse im herkömmlichen Sinn, also eine Zunahme an Sprachwissen, sondern auch eine Abnahme an Wissen eine Rolle. Die traditionelle Spracherwerbsforschung beschäftigt sich erst seit kurzem mit dem Phänomen des Sprachverlustes. Dies ist durch den theoretischen Forschungsrahmen, in dem operiert wird, bedingt, in dem lediglich lineare Spracherwerbsprozesse behandelt worden sind und der Sprachabbau keinen Platz fand.

Überleben der Sprache

Jeder hat das Szenario rund um den Sprachverlust schon mindestens einmal erlebt. Man bemüht sich eine neue Sprache zu lernen, lernt die Vokabeln, übt sich in der jeweiligen Grammatik mit der Anwendung von Pronomen, Präpositionen und Zeiten und durch Nichtgebrauch ist bald von dem mühsam erarbeiteten Sprachwissen kaum noch etwas vorhanden. Wie kann man einen Sprachabbau verhindern und was begünstigt ihn? „Das ist in jedem individuellen Fall eine komplexe Angelegenheit. Sprachabbau wird zweifellos begünstigt, wenn die Motivation, das Sprachwissen zu erhalten, abnimmt, mit anderen Worten, wenn ich mich zum Beispiel einer anderen Sprache zuwende, werde ich bisheriges Sprachwissen abbauen. Für den umgekehrten Fall gilt natürlich dasselbe. Wenn ich mich in einen Menschen verliebe, der eine andere Sprache spricht, wird mich dieser Umstand mehr motivieren, die Sprache zu lernen, als dies in der Schule der Fall wäre“, antwortet Prof. Jessner-Schmid. Was mit dem Sprachwissen nach der Schule passiert, sollte eigentlich die gesamte Gesellschaft vor allem auch aus bildungspolitischen Überlegungen beschäftigen. Die Frage nach dem Nutzen des Sprachunterrichts im schulischen Kontext stellt sich auch das Projektteam. Im Moment ist die erste Testung in vollem Gange. Die insgesamt 350 mehrsprachigen Jugendlichen werden einmal vor der Matura und das zweite Mal zirka ein Jahr nach dem Schulabschluss auf ihre Sprachkenntnisse hin getestet. Der räumliche Rahmen der Recherche reicht dabei von Nord- über Osttirol bis hin in den Südtiroler Raum. „Die Hypothese der Studie ist, dass sich das metalinguistische Bewusstsein, also wie die Personen mit Sprache als Objekt umgehen, in seiner Entwicklung besser erhält als das Sprachwissen selbst. Demzufolge untersuchen wir die metalinguistischen Fähigkeiten, die die mehrsprachigen Personen im Rahmen ihres Sprachenlernens erwerben. Die endgültigen Ergebnisse der Studie werden voraussichtlich im Frühjahr 2014 vorhanden sein“, erklärt die angewandte Sprachwissenschaftlerin.

Multilingualer Unterricht

Das Erlernen von Sprachen weckt das Bewusstsein für das Funktionieren von Sprache und fördert zudem die Aneignung von Lernstrategien. Daher sollte ein multilingualer Ansatz im Schulunterricht forciert werden. Durch sprachfachübergreifenden Unterricht trainiert man nämlich nicht nur die Sprache selbst, sondern zum Beispiel auch kognitive Fähigkeiten. Derzeit sind zwei DYME-Projekte (Dynamics of Multilingualism with English) zu diesem Thema im Abschluss. Mag. Barbara Hofer vergleicht in ihrer Dissertation „Frühe Dreisprachigkeit in Südtirol aus der psycholinguistischen Perspektive“ monolingualen mit bilingualem Schulunterricht im Südtiroler Raum. Die Entwicklung des metalinguistischen Bewusstseins durch Mehrsprachigkeitstraining untersucht Mag. Elisabeth Allgäuer-Hackl in ihrer Studie mit dem Titel „Multilingual training at school: Does it enhance language proficiency and metalinguistic awareness in multilingual learners?“. DYME ist eine Gruppe von Forscherinnen, Forschern und Studierenden, die am Thema Mehrsprachigkeit mit Englisch interessiert sind. Sie arbeiten überwiegend an der Universität Innsbruck unter der Leitung von Ulrike Jessner-Schmid. Die Studie LAILA ist ein weiteres Projekt von DYME.

(Nina Hausmeister)

Dieser Artikel ist in der April-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version steht unter folgendem Link zur Verfügung: wissenswert 2/2012