Tirol zwischen Tradition und Moderne
Ende Juni wurde ein einjähriges Forschungsprojekt an der Universität Innsbruck beendet, das sich zum Ziel setzte, ein Stimmungsbild der Tiroler Gesellschaft angesichts zukünftiger Herausforderungen in einer globalisierten Welt zu zeichnen. Was hält die Tirolerinnen und Tiroler zusammen, was treibt sie auseinander? Wie wird mit neuen Bewohnern umgegangen? Welche Perspektiven bieten sich für die Zukunft? „Die Ergebnisse zeigen, dass die Tiroler Gesellschaft ein sehr hohes Potential in sich trägt, Anforderungen stark und selbstbewusst gegenüber zu treten“, erklärt Studienautorin Elisabeth Donat, „aber auch, dass sie durchlässig gegenüber neuen Herausforderungen bleiben muss, um in einer immer komplexeren Welt bestehen zu können.“ Für die Studie wurden 29 biographische Interviews sowie 500 repräsentative telefonische Interviews mit Tirolerinnen und Tirolern aller Bevölkerungsschichten durchgeführt, seit kurzem liegen die Ergebnisse vor.
Die Tiroler und die anderen
„Die Liebe der Tirolerinnen und Tiroler zu ihrem Land nimmt manchmal
schon körperliche Dimensionen an“, sagt Elisabeth Donat. „Etwa verwenden
die Befragten in den biographischen Interviews eine Vielzahl von
physischen Metaphern wie das Herz, die fünf Sinne oder das Blut für die
Verbundenheit mit Tirol.“ Rund 85 Prozent der Befragten in der
Fragebogenerhebung fühlen sich in Tirol verwurzelt und lieben ihr Land.
Die Lebensqualität in Hinblick auf Umweltbedingungen und
Ausbildungsmöglichkeiten wird als sehr gut beschrieben, skeptischer sind
die Befragten bezüglich des Sozialsystems und der Bedingungen am
Arbeitsmarkt. Auch die Einschätzung, ob die Tiroler Gesellschaft nun als
offen oder als geschlossen und exklusiv bezeichnet werden kann, erzeugt
gemischte Gefühle bei den Befragten: Von jenen Befragten, die Tirol als
geschlossen erleben, stufen immerhin 63 Prozent den Zusammenhalt in der
Gemeinschaft als „schlecht“ ein.
Den Stolz, in Tirol zu leben,
tragen viele der Befragten auch nach außen: Zeichen der Zugehörigkeit
wie die Fahne, die Tiroler Tracht oder der Dialekt geben Orientierung
und Sicherheit. Drei Viertel der Befragten sind auch stolz darauf, dass
Tirol so gerne von Touristen besucht wird. Bei dauerhafter Zuwanderung
verhärten sich die Fronten allerdings: 80 Prozent der Befragten wollen,
dass neue Zuwanderinnen und Zuwanderer sich unbedingt den
vorherrschenden Regeln anpassen sollen und machen sich große Sorgen um
eine Benachteiligung der „Alteingesessenen“. Auch, dass mehr als 50
Prozent der Befragten den Bau weiterer Minarette in Tirol ablehnen, kann
zumindest als Skepsis gegenüber fremden Kulturen interpretiert werden.
Mit Vergangenheit in die Zukunft?
Dass die Geschichte Tirols ein aufwühlendes Thema für Tirols Bewohner
darstellt, konnte sowohl in den Tiefeninterviews als auch in der
Fragebogenerhebung gezeigt werden. Nur ein geringer Teil der
Untersuchungsteilnehmer weiß nichts mit dem Tiroler Freiheitskampf
anzufangen. Für rund 60 Prozent der Befragten ist Andreas Hofer noch
heute ein Held und viele wünschen sich, dass die Tiroler wieder so
zusammenhalten wie am Bergisel. Ähnlich das Ergebnis zu Südtirol:
„Jeder zweite Befragte stimmt der Aussage zu, dass die Trennung von
Südtirol tiefe Wunden hinterlassen hat“, bemerkt Elisabeth Donat. Dass
die Tiroler Gesellschaft neben ihrer Geschichte sehr stark von
konservativen Werten geprägt ist, lässt sich ebenfalls an den Daten
ablesen: Etwa gibt es für die Werte „Respekt vor Autoritäten“ (63
Prozent) und „Gehorsam gegenüber den eigenen Eltern“ (73 Prozent) hohe
Zustimmung. 70 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass es
jede und jeder in Tirol schaffen kann wenn er oder sie nur hart genug
arbeitet – und negieren somit behindernde Einflüsse, die außerhalb des
Einflusses der einzelnen Person liegen. Demgegenüber stimmt nur ein
Drittel der Befragten der Aussage zu, dass der Vater das Oberhaupt in
einer Tiroler Familie ist.
„Diese starken Wertestrukturen
verhindern jedoch unter Umständen die Chance, neuen Herausforderungen
offen gegenüber zu stehen“, meint Studienautorin Donat: So ist jeder
zehnte Befragte dagegen, dass homosexuelle Lehrer in Tiroler Schulen
unterrichten dürfen. Neben der allgemeinen Wertestruktur untersuchte die
Studie auch aktuelle Themen wie die Missbrauchsvorfälle in der
katholischen Kirche. Für fast alle Befragten ist eine Aufklärung der
Missbrauchsfälle wichtig, doch das bedingungslose Vertrauen in die
katholische Kirche scheint passé zu sein: So traut nur ein Drittel der
Befragten der katholischen Kirche zu, diese Missbrauchsfälle selber
lückenlos aufzuklären.
Zukunftspotentiale
Die starke Verbundenheit der Tiroler und Tirolerinnen mit ihrem Land lässt Partizipation und Mitgestaltung in Tirol nicht bloße Schlagwörter bleiben. Wären etwa die Befragten vom Bau einer Fernverkehrsstraße in ihrer unmittelbaren Wohngegend betroffen, würde jeder und jede zweite Befragte in Erwägung ziehen, auch öffentlich bei Medien oder Behörden aufzutreten. Besonders erfreulich ist das dichte Netz an Sozialkapital, das die Untersuchung aufzeigen konnte. Gesellschaftliche Teilhabe muss dabei nicht immer in Form von hochschwelligen, formalen Tätigkeiten (etwa die Mitgliedschaft bei Organisationen) sichtbar werden: So geben 73 Prozent der Befragten an, sich um ihre Nachbarn zu sorgen und zwei Drittel der Befragten helfen ihren Nachbarn regelmäßig. „Gelingt es, dieses dichte Netz aufrecht zu erhalten, kann die Gemeinschaft optimistisch in die Zukunft blicken“, sagt Elisabeth Donat.