Ein Stück Passionsspiel-Tradition

Vor einigen Jahren wurde im Stiftsarchiv St. Gallen ein beschädigtes Pergamentblatt entdeckt. Bei dem auf den ersten Blick eher unscheinbarenFund handelt es sich um ein Fragment des zweitältesten deutschen Passionsspiels. Klaus Amann vom Institut für Germanistik hat es aufgearbeitet und für Wissenschaft und Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Pfäferser Passionsspielfragment
Das Pfäferser Passionsspielfragment wird im Stiftsarchiv St. Gallen aufbewahrt. Auf dem Bild zu sehen ist nur ein Ausschnitt des Fragments. Foto: Stiftsarchiv St.Gallen

Noch heute sind Passionsspiele wie jene in Oberammergau, Thiersee oder Erl in der Osterzeit ein Anziehungspunkt für Einheimische und Touristen. In vielen dieser Orte geht die Spieltradition auf ein bestimmtes historisches Ereignis wie zum Beispiel eine Pestepidemie oder einen bevorstehenden Krieg zurück. Angesichts derartiger Katastrophen gelobten die Bewohner, die Leidensgeschichte Jesus in regelmäßigen Abständen aufzuführen, wenn sie verschont blieben. Wie weit die Passionsspieltradition im deutschen Sprachraum zurückreicht, ist jedoch nicht ganz geklärt; fest steht, dass es aus dem frühen und hohen Mittelalter nur wenige schriftliche Belege gibt. Mit einem davon, dem sogenannten Pfäferser Passionsspielfragment, hat sich Mag. Dr. Klaus Amann in seiner mit dem Liechtensteinpreis ausgezeichneten Doktorarbeit beschäftigt: Das erst vor relativ kurzer Zeit entdeckte Pergamentblatt, das rund 400 Verse überliefert, stammt aus dem frühen 14. Jahrhundert und ist damit ein Bruchstück des zweitältesten Passionsspiels im deutschen Sprachraum. Seinen Namen verdankt es einem kleinen Schweizer Kloster namens Pfäfers, das 1838 aufgelöst wurde. Die dort aufbewahrten Bücher wurden nach der Auflösung in die Bibliothek des Stiftsarchivs St. Gallen übersiedelt, wo man bei Restaurierungsarbeiten des Buchbestandes auf das Fragment stieß. „Im Mittelalter wurden Bucheinbände durch Spiegelblätter verstärkt. Dafür wurde häufig Pergamentabfall benutzt“, erläutert Klaus Amann. „Das Pfäfeser Fragment diente als Verstärkungsblatt und wurde entdeckt, als man von einem Buch den alten Einband wegschnitt“, schildert er die Umstände des Fundes. Bearbeitet hat Amann den Text anhand von Fotos, aber auch im Rahmen von Vorort-Untersuchungen. „Das Fragment weist abgeriebene Stellen auf, die wir unter einer UV-Lampe betrachten mussten, um Buchstaben zu erkennen. Außerdem hat es einen Knick. Was darunter war, konnte man am Foto nicht sehen“, erzählt er.

Salbenkrämer-Szene

Das Besondere am Pfäferser Fragment ist aber nicht nur sein Alter: „Es handelt sich um einen unbekannten mittelalterlichen Text, was eher ungewöhnlich ist. Meistens werden Ausschnitte aus bereits bekannten Werken gefunden“, führt der Germanist aus. Er hat sich in seiner Dissertation der Übersetzung, Kommentierung und Edition der 400 mittelhochdeutschen und lateinischen Verse gewidmet. „Bei der Übertragung ins Neuhochdeutsche ist es mir um eine möglichst genaue Wiedergabe des Inhaltes gegangen. Das war insofern eine Herausforderung, als dass viele mittelhochdeutsche Wörter zwar ähnlich klingen oder aussehen wie neuhochdeutsche, aber etwas ganz anderes bedeuten“, erklärt Amann. – Ein zentrales Element des Fragments stellt eine Salbenkrämerszene dar. Dabei handelt es sich um eine sehr anschauliche Interpretation der biblischen Szene am Ostermorgen: Die drei Marien begeben sich zum Grab von Jesus, um ihn mit wohlriechenden Salben einzubalsamieren. Die Salbenkrämerszene erzählt sehr ausführlich, wie die Frauen die Salben erwerben. „Salbenkrämerszenen sind in der mittelalterlichen Spieltradition gängig und gehen oft sehr stark ins Burleske. Spätere Spiele bestehen fast nur mehr aus burlesken, mitunter derben Elementen, die nach dem damaligen Geschmack als lustig galten“, berichtet Amann.
Ein weiterer Aspekt, der in Amanns Arbeit im Mittelpunkt steht, ist die Frage nach der tatsächlichen Herkunft der Verse. „Das Fragment wurde in Pfäfers aufbewahrt, was aber nicht von vorneherein bedeutet, dass es auch von dort stammt“, verdeutlicht er. „Ich konnte jedoch mithilfe von Vergleichsdokumenten zeigen, dass der Schreibdialekt in die Gegend passt.“ Auch die Infrastruktur in Pfäfers deutet darauf hin, dass die handschriftlichen Verse in Pfäfers selbst niedergeschrieben sein worden könnten: So gab es dort einen Schreiber, aber auch eine Schreibstube und eine Schule.

„Das Fragment ist ein wichtiges Stück Vorarlberger, Liechtensteiner und Ostschweizer Literatur-, Kultur- und Theatergeschichte. Der bisher vollkommen unbekannte Text bietet außerdem Einblicke in die frühe Spieltradition des Mittelalters“, betont Klaus Amann, dem es ein zentrales Anliegen war, das Pfäferser Fragment einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich zu machen.