Übersetzungswissenschaft/Dolmetschwissenschaft – Wege in eine neue Disziplin

Was erfährt man über ein universitäres Fach, wenn man 49 Vertreterinnen und Vertreter bittet, ihren beruflichen Lebenslauf zu schildern? Im konkreten Fall eine Reihe bisher wenig oder gar nicht bekannter, aber wissenschaftshistorisch relevanter Fakten, denn die kurze Geschichte der Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft wurde im deutschsprachigen Raum bisher kaum als würdiger Forschungsgegenstand betrachtet.

Die Gründergeneration, die hier in repräsentativer Breite zu Wort kommt, ist in der Regel in einem philologischen Fach sozialisiert worden oder musste die akademischen Weihen der Promotion und Habilitation – im Westen länger als in der DDR – auf dem „Umweg“ über ein durch die Tradition sanktioniertes philologisches Fach erwerben. Manche haben die Reflexion über das Übersetzen zu ihrem Hauptthema gemacht, ohne die Disziplin zu wechseln; einige waren und sind sichtbar um doppelte Loyalität bemüht; andere haben sich von ihren Wurzeln aber auch ostentativ losgesagt und passioniert versucht, die institutionelle Identität ebenso wie die fachliche Eigenständigkeit der jungen Disziplin, die sich ab den achtziger Jahren unter dem Namen Translationswissenschaft das volle Hausrecht an der Alma Mater zu erkämpfen trachtete, zu begründen und zu festigen.

Eine mittlere Generation konnte ihren Weg bereits innerhalb des Fachs gehen, musste aber den Übergang von der primär praxisorientierten Ausbildung zur wissenschaftlichen Beschäftigung weitgehend selbst finden und sich nach wie vor gegen die „Quereinsteiger“ durchsetzen. Erst der wissenschaftliche Nachwuchs, der nun seit kurzem auf die einschlägigen vakanten Professuren berufen wird, fand die Translationswissenschaft bereits als Disziplin vor, in der man von Anfang an eine universitäre Laufbahn ohne Rösselsprünge anvisieren konnte.

In dem Band erzählen Vertreterinnen und Vertreter aller Altersschichten, wie sie Übersetzungs-, Dolmetsch- oder TranslationswissenschaftlerInnen geworden sind. Dass sich das Fach im Lauf eines Vierteljahrhunderts beträchtlich gewandelt hat, wird in fast allen autobiografischen Artikeln betont. In welche Richtung es sich in Zukunft entwickeln wird, darüber scheinen die Prognosen und Wunschvorstellungen relativ weit auseinander zu gehen.

Übersetzungswissenschaft/Dolmetschwissenschaft – Wege in eine neue Disziplin
herausgegeben von Wolfgang Pöckl
Wien: Edition Praesens 2004, 435 Seiten
ISBN 3-7069-0238-9