Welche Demokratie? Welches Volk? Governance in Europa

Vorurteile, Skepsis und auch Ablehnung bestimmen die öffentliche Diskussion über die EU. Sie gründen auf einer scheinbar unüberwindbaren Distanz zwischen BürgerInnen und politischen EntscheidungsträgerInnen. Wo liegen die Vorzüge sowie die Schwachstellen von Demokratie in der EU? Und wie kann eine europäische Identität im öffentlichen Bewusstsein verankert werden?
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Europa geht uns alle an: Die Vortragenden Michel Cullin (2. v. l.), Ondřej Kalina (3. v. r.) und Doris Dialer (2. v. r.).

Das war die Thematik einer Veranstaltung am 4. Mai in der Claudiana, zu der der Frankreich-Schwerpunkt, das Institut français d'Innsbruck und das Forschungszentrum Governance and Civil Society geladen hatten. Es ging um vermeintliche oder tatsächliche Demokratiedefizite in der EU und die Ausbildung einer europäischen Identität – anstatt oder zusätzlich zu den nationalstaatlichen Identitäten und vielleicht nach dem Vorbild von diesen.

Projekt Europa

Ausgangspunkt der Überlegungen war das Projekt Europa seit 1945 – also die EU, aber eben nicht nur die EU, denn die ReferentInnen erinnerten daran, dass Europa weit über diese hinausgeht – und seine mangelnde Verankerung im Bewusstsein der europäischen Bürgerinnen und Bürger. Woran liegt das mangelnde Europa-Bewusstsein und was kann man dagegen tun? Inwieweit muss sich Europa verändern, um als gemeinsames Anliegen, als gemeinsame Identität der EuropäerInnen zu fungieren?

Und welche Rolle spielt dabei die Demokratie? Diese Demokratie, die derzeit auf nationalstaatlicher Ebene implementiert ist und deren Mechanismen und Institutionen auch die Ansprüche prägen, die bezüglich Demokratie an die EU gestellt werden, denen diese aber nicht gerecht werden kann – und vielleicht auch gar nicht gerecht werden sollte. Jedenfalls wird jene nationalstaatliche Ebene, die derzeit der Sitz der prototypischen demokratischen Einrichtungen ist, aus historischer Perspektive auch als gefährlich empfunden: Ist sie doch der Sitz jener Konkurrenz- und Feindschaftsverhältnisse, die in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts gemündet haben und die gerade durch die Institution einer größeren Gemeinschaft überwunden werden sollten. Die Idee einer „Friedensgemeinschaft“ hat allerdings für die jüngere Generation keine besondere Attraktivität mehr, da ihr in der Erfahrung der Jungen der Kontrapunkt fehlt. Dagegen greifen Politiker aller Couleurs ausführlich auf den billigen Trick zurück, Brüssel den Schwarzen Peter für unpopuläre Entscheidungen zuzuschieben, und Populisten insbesondere der beiden Extreme sehen in der EU ein willkommenes Feindbild, das die nationale Identität angeblich gefährdet. Gerade fremdenfeindliche Ansätze berufen sich mit Vorliebe auf Mythen der nationale Identität, die gegen vermeintliche Gefahren von außen ins Treffen geführt werden.

Nationalstaatliche Mythen

Solche nationalstaatlichen Mythen müssten gezielt dekonstruiert werden, forderte der erste Referent, der französische Diplomat und Politikwissenschaftler Prof. Michel Cullin (Spezialist für französisch-österreichische und französisch-deutsche Beziehungen), und nannte als ein Beispiel den Kosovo-Konflikt. Er erinnerte an die Bedeutung des Widerstands gegen das Nazi-Regime, und zwar sowohl in Frankreich als auch in Deutschland, denn aus dieser Gemeinschaft heraus habe sich die Idee eines vereinten Europa entwickelt. „Interkulturalität“ als Kenntnis anderer Kulturen und Toleranz ihnen gegenüber sei nicht ausreichend. Im Gegensatz dazu entwickelte Michel Cullin das Konzept der „Transkulturalität“, bei dem eine Person oder eine Gemeinschaft durch den intensiven Kontakt mit einer fremden Kultur eine neue, zusätzliche Identität erwirbt, wobei der Kontakt zwischen den Kulturen befreiend und befruchtend wirkt. „Identität“, postulierte Cullin, „ist im übrigen ein Konzept, das man nie im Singular, sondern immer nur im Plural denken und verwenden sollte.“ In den multiplen regionalen und nationalen Identitäten jedes einzelnen Bürgers und jeder Bürgerin liege die transkulturelle Zukunft Europas.

Die zweite Referentin, Dr. Doris Dialer, eine Tirolerin, die in Brüssel beim Europäischen Parlament und in Innsbruck als Lehrbeauftragte am Institut für Politikwissenschaft tätig ist, beschäftigte sich aus ihrem reichen Erfahrungsschatz heraus mit den Machtstrukturen und Funktionsweisen innerhalb der EU. Zur Frage der Defizite, aber auch den Fortschritte der Demokratie in Europa beleuchtete sie insbesondere die Bedeutung und die Mechanismen des Europäischen Parlaments und die neuesten Entwicklungen diesbezüglich. Jenseits von Euro-Skepsis und Euro-Vorurteilen lieferte sie konkrete Analysen, inwieweit die EU-Bürger und -Bürgerinnen mehr oder weniger gleichberechtigt und mehr oder weniger direkt an den Entscheidungen in Brüssel beteiligt sind. „Es gibt seit neuestem die Europäische Bürgerinitiative, die einem Volksbegehren gleichkommt“, berichtete Dialer über den Beginn der direkten Demokratie innerhalb der EU, räumte aber gleichzeitig ein, dass das derzeitige Wahlrecht die Stimmen aus kleinen Mitgliedsländern stärker gewichte als die aus großen. Sie prägte den Ausdruck von der „nachholenden Parlamentarisierung“, denn jeder Vertrag habe die Rolle des Parlaments immer weiter aufgewertet, und sprach auch von der „doppelten Parlamentarisierung“, denn neben den Regierungen spielten die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten eine zunehmende Rolle. Die eigentliche Arbeit des Europäischen Parlaments erfolge aber in den Ausschüssen und sei daher weniger sichtbar als in den nationalen Parlamenten – außerdem sei die Arbeit sehr stark auf Konsens ausgerichtet, was naturgemäß für die Medien nicht besonders spektakulär sei.

Diskrepanz

Genau da hakte der dritte Referent, der tschechische Politikwissenschaftler Dr. Ondřej Kalina von der Universität Passau und der Akademie für politische Bildung Tutzing ein, der von der Diagnose einer „Schizophrenie der EU-Bürger“ ausging, „die überzogene Ansprüche an die Demokratie innerhalb der EU stellen und ein Demokratie-Defizit subjektiv konstruieren, ohne überhaupt zu wissen, wie die Union funktioniert“. Man müsse diese Diskrepanz ernst nehmen und die Europa-Müdigkeit der BürgerInnen als Ausgangspunkt akzeptieren, selbst wenn sie vielleicht auf einer falschen Wahrnehmung basiere. Ein breites Interesse an europäischer Politik und eine Identifikation mit Europa sei nur zu erzielen, wenn in der Politik und in den Medien der kontroversielle Aspekt stärker hervorgestrichen werde, allerdings immer anhand von Sachthemen. Durch die so entstehenden Allianzen mit Gleichgesinnten in anderen EU-Ländern könne beim Bürger und bei der Bürgerin mittelfristig ein Bewusstsein als politischer Akteur im breiteren Raum der EU geschaffen werden. Die Gefahr der Polarisierung bestehe allerdings – deswegen der Aufruf, immer von Sachthemen auszugehen –, aber Polarisierung bedeute auch Engagement, und ein solches sei in Bezug auf europäische Politik notwendig. Natürlich seien die Ansprüche an die Demokratie innerhalb der EU überzogen, wenn sie an nationalstaatlichen Maßstäben gemessen würden, man verlange also von der EU die Erfüllung eines überzogenen und unmöglichen demokratischen Ideals. Daher müsse man auch Aufklärung und Marketing für Europa betreiben; mehr sachbezogener Konflikt könne aber die Aufmerksamkeit der Medien auf europäische Fragen lenken und so langfristig eine europäische politische Öffentlichkeit schaffen.

In der anschließenden Diskussion, die von Dr. Anja Opitz von des Forschungszentrums Governance and Civil Society geleitet wurde und an der sich das sehr zahlreich erschienene (großteils studentische) Publikum rege beteiligte, wurden die vorher angeschnittenen Themen vertieft und vor allem das Unbehagen an der EU genauer diagnostiziert. Das Fehlen einer sozialen Dimension in der gemeinsamen europäischen Politik wurde genauso angesprochen wie die eindeutige Erfolgsgeschichte des Erasmus-Programms, das als Vorbild für weitere Austauschprogramme im Bereich der Schulen oder der Berufsbildung dienen und so einen nachhaltigen Beitrag zur Bildung einer europäischen Identität leisten könnte.

(Eva Lavric)