Montagsfrühstück: Neuer Antisemitismus in Europa?

Zum vierten Mal in diesem Jahr fand am 18. Mai das „Montagsfrühstück – Forum für strategische Langsamkeit“ im Literaturhaus am Inn statt. Unter der Moderation von Ingrid Böhler (Institut für Zeitgeschichte) diskutierten der Politikwissenschaftler Prof. Reinhold Gärtner und der Schriftsteller Doron Rabinovici über die Frage, ob es einen neuen Antisemitismus in Europa gibt.
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Die Diskutanten Doron Rabinovici (links) und Reinhold Gärtner (rechts) mit Moderatorin Ingrid Böhler.

Heuer jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 70. Mal, jedoch ist der Antisemitismus in Europa mit dem Untergang des nationalsozialistischen Regimes nicht verschwunden. Die schockierenden Terroranschläge in Paris und Kopenhagen im Frühjahr 2015 veranlassen zu der Frage, ob es einen „neuen Antisemitismus“ in Europa gibt. In den letzten Jahren ist eine deutliche Zunahme an gewalttätigen Übergriffen auf Juden in Europa zu verzeichnen und auch jüdische Einrichtungen waren häufig das Ziel antisemitischer Anschläge. Ein „neuer Antisemitismus“ lässt sich vermuten, weil sich die Täter nicht mehr ausschließlich aus dem klassischen rechtsextremen Milieu, sondern – den jüngsten Vorfällen zufolge – auch aus dem Umfeld radikalisierter Moslems stammen.

Antisemitismus – ein irrationales Phänomen

In seinem Vortrag erinnerte Reinhold Gärtner zunächst an die zahlreichen historischen Übergriffe und Vorurteile, mit denen sich Juden in der Vergangenheit konfrontiert sahen. Unter anderem erinnerte er an die Ritualmordlegende in Tirol um „Anderl vom Rinn“, dem Anliegen des Gauleiters Franz Hofer, Tirol und Vorarlberg judenfrei zu machen, bis hin zu den Demonstrationen in Innsbruck im Juli 2014, bei der eine Frau mit israelischer Fahne gewaltsam attackiert wurde. Gärtner weist darauf hin: „Der Antisemitismus ist in Europa nicht verschwunden, er hat sich verändert.“ Den „neuen Antisemitismus“ zeichnet dabei aus, dass er nicht mehr ausschließlich von der klassischen rechtsextremen, sondern auch von einer fundamentalistischen Seite ausgeht. Eine klare Positionierung der politischen Mitte wäre für Gärtner hier wichtig, um gegen Antisemitismus vorzugehen. Es stelle sich dabei jedoch die Frage, was gesellschaftlich tolerierbar ist und was wir für unsere Gesellschaft wollen.

Der Autor und Historiker Doron Rabinovici erklärte hingegen, dass der Antisemitismus in Österreich nach 1945, durch das, was in den Konzentrationslagern passierte, in der Gesellschaft tabuisiert wurde. Erst mit der Waldheim-Affäre wurden die nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden nach und nach aufgearbeitet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges änderte sich die Stellung der Juden in der Gesellschaft. „Der Antisemitismus existiert nicht wegen, sondern trotz Auschwitz. Es wurde den Juden nicht verziehen, was passierte“, so Rabinovici. Der Autor erklärte den Antisemitismus zu einem irrationalen Phänomen. Als Beispiel, dass der Antisemitismus postmodern operiert, nannte Rabinovici die Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg. Zudem lässt sich das Phänomen feststellen, dass es bei neuerlichen Konflikten am Gaza-Streifen auch zu vermehrt auftretenden antisemitischen Vorfällen in Europa kommt. Der „neue Antisemitismus“ unterscheidet sich vom „alten“ für Rabinovici dahingehend, dass auf den „alten Antisemitismus“ neue Themen manövriert werden. Schlussendlich erklärte Rabinovici den Antisemitismus zu einem globalen Phänomen und zu einer globalen Auseinandersetzung.

Für weitere Informationen zum Thema empfiehlt sich die Literatur „Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte“ (Hrsg. Doron Rabinovici, Ulrich Speck und Natan Sznaider, 2004) und „Politik der Feindbilder. Rechtspopulismus im Vormarsch“ (Hrsg. Reinhold Gärtner, 2009).

(Philippa Ettenauer)