Vortrag: Der Erste Weltkrieg aus russischer Perspektive

Mit dem Vortrag von Igor Narskij zum Thema „Vergessener Krieg, unvergessliche Front? Der Erste Weltkrieg und seine Erinnerung in Russland“ ging die Ringvorlesung „Der Erste Weltkrieg in internationaler Perspektive“ am 8. Mai 2014 in die nächste Runde. Auch diesmal durften Gunda Barth-Scalmani und Hermann Kuprian nicht nur Studierende unter den Zuhörern begrüßen.
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Igor Narskij bei seinem Vortrag. (Foto: Ricarda Hofer)

Prof. Dr. Igor Narskij, derzeit Direktor des Forschungszentrums für Kulturgeschichte an der Staatlichen Süd-Ural-Universität (Čeljabinsk), gilt als anerkannter Forscher in Bezug auf die Erforschung der Rolle Russlands im Ersten Weltkrieg. Eine moderne Weltkriegsforschung etablierte sich in Russland erst nach 1991. Ihr Schwerpunkt liegt dabei allerdings nicht wie vielleicht vermutet in Moskau und St. Petersburg, welche sich unter anderem mit der Erforschung von Kriegsstrategien beschäftigen, sondern konzentriert sich hauptsächlich auf die Heimatfront und das Hinterland und die dort stattfindenden dramatischen Veränderungen. Der Vortragsabend wurde in Kooperation mit dem Russland-Zentrum der Universität organisiert.

„Die Front war keine hermetisch isolierte Welt!“

Narskij sprach in seinem Vortrag davon, dass die russischen Soldaten die Schuld an den Zuständen der Front vor allem im Hinterland suchten. Die staatliche Unfähigkeit zur Organisation der provinziellen Gebiete führte zunächst zu Versorgungsengpässen von Waffen und Munition. Aus russischer Sicht bestand in Bezug auf die deutsche Armee eine gewisse Faszination, da diese als viel moderner und fortschrittlicher galt als die eigene. Als die Versorgungsengpässe im Hinterland für alle Güter immer gravierender wurde, sah man sich allmählich aus den eigenen Reihen bedroht. Die Soldaten träumten davon, nach dem Krieg mit den „Feiglingen“ des hoffnungslos zurückgebliebenen Hinterlandes abzurechnen. Im Zuge des Verbotes des freien Alkoholverkaufes gipfelte die Unzufriedenheit in der sogenannten „Revolution im Suff“: Nachdem man den Soldaten nur eine gewisse Menge an Alkohol zur Verfügung gestellt hatte, plünderten diese die Schnaps- und Weinkeller der staatlichen Verkaufsstellen. Nachdem sich die Meute „übersoffen“ hatte, machte sie sich daran, Geschäfte und Häuser zu zerstören. Anführer dieser gewaltsamen Ausschreitungen seien, so glaubte man, Kriminelle gewesen, die aus den Zuchthäusern ausgebrochen waren. Narskij wies darauf hin, dass dieses landesweite Phänomen von Seiten der „Roten“ wie der „Weißen“ instrumentalisiert, jedoch im Nachhinein aus beiden Erinnerungskulturen getilgt worden sei, da es sich nicht mit der jeweiligen „sauberen“ ideologischen Eigenwahrnehmung vertrug. Diese „Suffprogrome“ endeten erst im Sommer 1918, als die Alkohol-Depots leer waren. Zusammenfassend kann man diese Ereignisse als eine der anschaulichsten Illustrationen des kulturellen Konfliktes von oben und unten, von Front und Heimatfront, interpretieren, dem die politische Revolution von 1917 eine neue, viel mehr politisierende Dimension verlieh.

Erinnerung und Vergessen des Ersten Weltkrieges

Der russische Bürgerkrieg führte zu einer Verbreiterung der Gewöhnung von Gewalt bei allen Schichten der Bevölkerung. Die von der älteren und neueren russischen Elite erhoffte Modernisierung und Disziplinierung des Landes durch den Bürgerkrieg fand allerdings nicht statt, stattdessen stiegen die Brutalität und Archaisierung der Auseinandersetzungen auf ein bis dahin unvorstellbares Ausmaß. Der Bürgerkrieg instrumentalisierte, adaptierte und korrigierte so die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und hypertrophierte sie letztendlich, sodass der Erste Weltkrieg dadurch in Russland in den Schatten des Bürgerkrieges fiel. Darüber hinaus begann der Prozess des kollektiven Vergessens, kaum dass der Erste Weltkrieg 1917 für die Bolschewiki zu Ende war. Für das massive und enorm schnelle Verdrängen des Ersten Weltkrieges war auch das Ausmaß der nachfolgenden zivilisatorischen Katastrophe verantwortlich, das sich in den Zahlen des Bevölkerungsverlustes widerspiegelt. Während des Ersten Weltkrieges zählte man in Russland zwei Millionen Opfer unter Soldaten und Zivilbevölkerung, wohingegen im Bürgerkrieg 1917 bis 1922 weitere 13 bis 18 Millionen im Zuge militärischer Auseinandersetzungen und durch Hunger und Seuchen umkamen.

Die letzten Jahre des Zarenreiches sowie der Beginn der Sowjetunion traten durch die sowjetische Geschichtsschreibung in Vergessenheit, Staat und Bevölkerung waren daran in gleichem Maße beteiligt. Igor Narskij sprach beispielsweise von seinem Großvater, der ihm in den späten 1960er Jahren erstmals davon erzählte, wie er selbst 1916 bei der Einnahme Lembergs im Zuge der Offensive von General Brussilow dabei war, verwundet und dafür mit einem Silberne Kreuz des Heiligen Georges ausgezeichnet wurde. Der Großvater sprach in diesem Zusammenhang allerdings nicht vom Ersten Weltkrieg, sondern vom „germanischen-imperialistischen“ Krieg. Von Zeitgenossen wurde dieser oftmals als Zweiter Vaterländischer Krieg bezeichnet. (Im russischen Kontext waren der Krieg gegen Napoleon der Erste Vaterländische Krieg und Stalin propagierte ab 1941 gegen Hitler wiederum einen Vaterländischen Krieg.) Die Mythen des Bürgerkrieges bzw. des Zweiten Weltkrieges hingegen waren im sowjetischen Kontext ideologisch universell, organisierten die Vergangenheit und ließen Platz für Prognosen. Der Erste Weltkrieg wurde zwar vergessen, die Aufbewahrung und Weitergabe seiner Verhaltens- und Deutungsmuster machten es aber möglich, dass er sich zu einer kaum mehr identifizierbaren, aber dauerhaft weiterexistierenden und damit unvergesslichen Front entwickelte. 

Auch der zweite Vortrag in der Reihe war gut besucht. (Foto: Ricarda Hofer)

Auch der zweite Vortrag in der Reihe war gut besucht. (Foto: Ricarda Hofer)

(Tamara Bocksleitner, Jacqueline Knaller)


Der Vortrag auf Youtube:

(Direktlink: http://youtu.be/KKKh3RrYSYA)