Heimgeschichteforschung an den Erziehungswissenschaften

Eine Vorstudie am Institut für Erziehungswissenschaft hat den Rahmen für die wissenschaftliche Aufarbeitung von Gewalt- und Ausbeutungspraktiken in früheren Erziehungsheimen in Tirol und Vorarlberg abgesteckt. Die Länder Tirol und Vorarlberg haben kürzlich die Förderverträge unterzeichnet und zwei aus fünf Projektvorschlägen ausgewählt. Bewerbungen sind noch bis 3. April möglich.
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Speisesaal im Erziehungsheim Jagdberg. (Foto: Vorarlberger Landesarchiv)

In zwei getrennten Forschungsprojekten werden einmal das Fürsorgeerziehungssystem der Länder Tirol und Vorarlberg der Zweiten Republik untersucht, zum anderen das Landeserziehungsheim für Mädchen St. Martin in Schwaz als pars pro toto der frühen geschlechtsgebundenen Fürsorgeerziehung in den Blick genommen. Bis zum 3. April 2013 können sich interessierte ForscherInnen für die Mitarbeit an dieser von ao. Univ.-Prof. Michaela Ralser geleiteten Forschungsgruppe bewerben. Die Forschungsprojekte haben eine Laufzeit von eineinhalb, respektive von zwei Jahren. Sie untersuchen zeitnah die wesentlichen Aspekte der regionalen Geschichte der Erziehungsheime, der Fürsorgeerziehung und der diese konstituierenden und flankierenden Agenturen (der historischen Jugendfürsorge, der Kinderpsychiatrie und Behindertenhilfe) und befassen sich mit den Erfahrungen und Verarbeitungen der von diesen Maßnahmen betroffenen Kinder und Jugendlichen.

Das Fürsorgeerziehungssystem der Länder Tirol und Vorarlberg

Gegenstand der ersten Studie ist die Aufklärung des Zusammenhangs der unterschiedlichen Kräfte und Machtwirkungen, die das Fürsorgeerziehungssystem der Länder Tirol und Vorarlberg bis in die 1980er Jahre hinein kennzeichneten und seine Veränder­ungsresistenz bestimmten. Dazu gehören – nach bisherigem Kenntnisstand – der Fürsorgeerziehungsapparat ebenso wie die Fürsorgeerziehungsanstalt (das Erziehungsheim selbst), beide flankiert noch durch die mit Fürsorgeerziehungsfragen befasste Kinderpsychiatrie, die Schule und die Behindertenhilfe. Die Effizienz der Symbiose von Recht, Politik, Pädagogik und Medizin steht im Zentrum der Analyse. Die Studie soll einen Überblick liefern und an aus­gewählten Beispielen – auf Grundlage kritischen Quellenstudiums ergänzt durch ZeitzeugInneninterviews – Tiefenschärfe gewinnen.

Das Landeserziehungsheim für Mädchen St. Martin in Schwaz

Die zweite Untersuchung beschäftigt sich mit der Rekonstruktion der Geschichte des Landeserziehungs­heims St. Martin. Als über Jahrzehnte einzigem Erziehungsheim für schulentlassene Mädchen in Westösterreich kommt ihm strategische Bedeutung und Pars-pro-toto-Stellung für die regionale Geschichte der weiblichen Jugendfürsorge zu. Diese gilt es herauszuarbeiten, sowohl was seine Entstehungs­geschichte als Arbeits- und Korrigendenhaus anbelangt, als auch was seine Alleinstellung als Fürsorgeerziehungsanstalt für Mädchen einschließlich der zeitspezifischen geschlechtsgebun­denen Erziehungsvorstellungen und -praktiken betrifft. Dazu gehören neben dem Prinzip der „Versittlichung und Verhäuslichung“ wesentlich auch das Erziehungsmittel „zur Arbeit durch Arbeit“ und die Aufklärung der in diesem Rahmen begründeten Erwerbsarbeits- und Ausbildungsverhältnisse der Mädchen. Um neben der Institutionen- und Strukturgeschichte des landeseigenen Mädchenheims auch die Heimwirklichkeit angemessen zu rekonstruieren, wird auf ZeitzeugInnenbefragung zurückgegriffen werden.

Forschungsstellen in Ausschreibung

Für die Forschungsprojekte haben die Stellenausschreibungen soeben begonnen. Gesucht werden Erziehungs- oder GeschichtswissenschafterInnen mit Expertisen in „Geschichte der Erziehung und Bildung“, insbesondere hinsichtlich der Entwicklung der Fürsorgeerziehung einschließlich einer normalismus- und geschlechterkritischen Perspektive. StellenbewerberInnen können Ihre Bewerbungsunterlagen noch bis 3. April an das Institut für Erziehungswissenschaft, Liebeneggstr. 8, 6020 Innsbruck, oder an die E-Mail christoph.tauber@student.uibk.ac.at (stud. Mitarbeiter der Dekanin & Projektleiterin M. Ralser) senden.

(Christoph Tauber)