Y. Sekido and H. Elliot (eds.), Early History of Cosmic Ray Studies, 17-31.

© 1985 by D. Reidel Publishing Company.


ERINNERUNGEN AN V. F. HESS,

DEN ENTDECKER DER KOSMISCHEN STRAHLUNG,

UND AN DIE ERSTEN JAHRE DES BETRIEBES

DES HAFELEKAR-LABORS

 

Rudolf STEINMAURER*

* University of Innsbruck (emeritus), Innsbruck, Austria.

<Ed.> The manuscript of this article written in German was not translated into English according to the suggestion of editors who hope that the readers might be invited into the world of cosmic ray classics because all of the very early papers on cosmic rays were published in German.

 


 

Um zu verstehen, wie es zur Entdeckung der Kosmischen Strahlung durch Hess im Jahre 1912 kommen konnte, müssen wir uns in die Zeit um 1900 zurückversetzen, als man die Leitfähigkeit der Atmosphäre und ihre Ursachen zu studieren begann.

Geitel, Elster u. Geitel und Wilson hatten fast gleichzeitig festgestellt, daß staubfreie Luft auch in geschlossenen Gefäßen stets schwach leitet. Als Ursache nahmen Elster u. Geitel Spuren radioaktiver Stoffe in der Luft selbst oder in den Gefäßwänden an. Wilson erwog als ionisierendes Agens eine Strahlung, deren Quelle außerhalb der Atmosphäre liegen könnte (Wilson, 1901). Er schreibt:

" ... whether the continuous production of ions in dust-free air could be explained as being due to radiation from sources outside our atmosphere, possibly radiation like Röntgen rays or like cathode rays, but of enormously greater penetrating power".

Da, wenn von außerhalb der Atmosphäre kommend, die Wirkung der Strahlung unter "many feet of solid rock" schwächer sein mußte, transportierte er die Apparatur in den Caledonian Railwaytunnel bei Peebles. Da er aber dort nicht die erwartete Abnahme fand, sondern eine innerhalb der Fehlergrenzen liegende Zunahme, schloß er:

"It is unlikely, therefore, that the ionization is due to radiation which has traversed our atmosphere; it seems to be, as Elster u. Geitel concludes, a property of the air itself".

Daß die lonisierung durch eine von außen in das Gefäß dringende Strahlung bewirkt wird, zeigten die Panzerungsversuche von Rutherford und Cooke. Als Quelle dieser durchdringenden Strahlung wurden bald die radioaktiven Substanzen im Erdboden ("Erdstrahlung") und in der Luft ("Luftstrahlung") erkannt.

Mit dieser Deutung eines radioaktiven Ursprunges der gesamten "Reststrahlung" gab man sich mehrere Jahre lang zufrieden. Ihre Unzulänglichkeit wurde aber offenbar, nachdem man mit verbesserten Apparaten Messungen über See und in größeren Höhen in der Atmosphäre ausgeführt hatte.

So fanden Mc Lennan und ebenso Pacini bei Vergleichsmessungen über See und Land einen unerwartet hohen Wert über See, trotz der geringen Radioactivität des Meerwassers. Pacini schätzte diesen durchdringenden, nicht radioaktiven Anteil zu etwa 2 I (1 I = 1 Jonenpaar pro cm3 und Sekunde).

V.F. Hess, 1936-37, aus Anlaß der Nobelpreisverleihung.

Daß nicht die gesamte beobachtete durchdringende Strahlung von den radioaktiven Stoffen im Erdboden stammen kann, folgt auch aus Messungen der Abnahme der Ionisation mit der Höhe. So fand Wulf nach Abzug der Wandstrahlung seiner Apparatur auf dem Boden 6 I, auf dem Eiffelturm in 300 m 3,5 I, einen Wert, der zu groß war, denn nach Eve werden Gamma-Strahlen durch 300 m Luft fast völlig absorbiert. Wulf schloß:

" ... Die bisher gemachten Versuche verlangen daher außer der Erdrinde noch eine andere Quelle für die Gamma-Strahlung in den höheren Luftschichten oder eine wesentlich schwächere Absorption durch die Luft, als bisher angenommen". Messungen im Freiballon wurden von Bergwitz und von Gockel (bis 4500m) durchgeführt. Gockel berichtet, daß er zwar eine Verminderung der Strahlung mit der Höhe feststellen konnte, aber

"lange nicht in dem Maße, wie sie zu erwarten gewesen wäre, wenn die Strahlung ihrer Hauptsache nach vom Erdboden ausgeht".

So stand das Problem, als Hess sich einschaltete. Hess, damals 1. Assistent am neugegründeten Institut für Radiumforschung in Wien, war mit der radioaktiven und der luftelektrischen Meßtechnik bestens vertraut. In einem Vortrag vor der 83. Naturforscherversammlung in Karlsruhe im Jahre 1911 erklärte er (Hess, 1911):

"Die zu geringe Abnahme der lonisation mit der Höhe in einem geschlossenen Gefäß könnte zweierlei Ursachen haben:"

" ... erstens kann außer den radioaktiven Substanzen der Erde ein anderer, uns noch unbekannter lonisator in der Atmosphäre wirksam sein" oder es

"kann die Absorption der Gamma-Strahlen in Luft vielleicht viel langsamer erfolgen als bisher angenommen wurde".

Hess schildert seine Untersuchungen, die zur Entscheidung zwischen diesen beiden Möglichkeiten und schließlich zur Entdeckung der Kosmischen Strahlung führten, wie folgt (Hess, 1912, 1940):

"At that time, in the spring of 1911, after reading an account of Father Wulf's Eiffel-Tower experiments, I was inclined to believe that a hitherto unknown source of ionization may have been in evidence in all these experiments; and I decided to attack the problem by direct experiments of my own.

It seemed to me necessary to measure accurately the absorption of gamma rays from radium in air in order to find out how far above the ground gamma rays could act as an ionizing agency. I made this measurement in Vienna, using a large quantity of radium (1500 milligrams) as source of gamma rays and observing the ionization in a closed vessel placed outdoors at various distances up to 90 meters from the source. The coefficient of the absorption in air calculated from these measurements was of the expected magnitude; and from this it could be said with certainty that gamma rays from the ground are almost completely absorbed at 500 meters above the ground.

The next step was the construction of an air-tight ionization apparatus which could be used during balloon flights and fitted with a sensitive electrometric system which was not influenced by the large fluctuations of temperature occurring in the flights. I used a modification of Th. Wulf's apparatus with walls of zink, thick enough to withstand the excess pressure of one atmosphere and a temperature compensation for the fibre electrometer. Furthermore, I found it very important always to use two or three of the instruments simultaneously in order to avoid errors from instrumental defects. With such instruments, I made ten balloon ascents: two in 1911 , seven in 1912 and one in 1913. Five of them were carried out at night, and some of them continued during the following morning. One flight was made during a solar eclipse, in April 1912.

By taking successive readings of the ionization with two or three instruments at a time, much more reliable data were obtained. I found that at 500 meters above the ground the ionization was, on the average, about 2 I lower than on the ground and that, from about 1800 meters upwards, an increase of ionization is undoubtedly in evidence, At 1500 meters, the ionization increased to the same value as had been found on the ground. At 3500 meters, the increase amounted to no less than 4 I, at 5000 meters to 16 I above the ground value. No difference between day and night observations was noticed.

An explanation of the increase of ionization with increasing altitude on account of the action of radioactive substances was impossible. I calculated that the known quantities of radium emanation (radon) and other substances in the atmosphere could not produce more than one twentieth of even the small effect observed at an altitude of one to two kilometers.

The only possible way to interpret my experimental findings was to conclude to the existence of a hitherto unknown and very penetrating radiation, coming mainly from above and being most probably of extra-terrestrial (cosmic) origin. The extraordinary penetrating power of this radiation could be derived from the fact that its ionizing action was even noticeable at sea level, after having penetrated the whole atmosphere of which the mass is equivalent to a layer of 76 centimeters of mercury or 10.5 meters of water".

Soweit der Bericht. Schon auf Grund der ersten Fahrten hatte Hess die Existenz einer derartigen Strahlung vermutet, aber Gewißheit brachte erst die Hochfahrt am 7. August 1912. Dieser Tag kann also als Entdeckungstag der Kosmischen Strahlung angesehen werden.

Zur Gegenüberstellung mit den heutigen Forschungsmethoden, die sich der Raketen und der künstlichen Satelliten bedienen, sei Hess wörtlich in seiner Schilderung der Fahrt vom 7. August 1912 wiedergegeben (Hess, 1913):

"Es erübrigte jetzt nur noch, einmal eine Hochfahrt zu machen, um das Verhalten der Gamma-Strahlung in Höhen von mehr als 3000 m zu erforschen. Zu diesem Zwecke habe ich am 7. August eine Fahrt mit dem 1.680 m3 fassenden Ballon "Böhmen" des deutschen Luftfahrtvereines in Böhmen von Aussig a. d. Elbe aus unternommen. Die Füllung des Ballons erfolgte bereits während der Nacht. Es wurde sehr reiner Wasserstoff zur Füllung benützt, der pro Kubikmeter eine Tragfähigkeit von 1,1 kg aufwies. Es war also Hoffnung vorhanden, eine Höhe von 6000 m zu erreichen.

An der Fahrt nahmen teil: Herr Hauptmann W. Hoffory als Führer, Herr E. Wolf als meteorologischer Beobachter und meine Wenigkeit. Um 6 Uhr 12 Minuten früh wurden wir vom Fahrwart, Herrn Ing. Walter Mitscherlich, hochgelassen. Die Platzfrage gestaltete sich recht schwierig, denn für drei Personen, drei große Sauerstoffzylinder, Sitzbank, Instrumentenkorb und Handgepäck schien der an sich bequeme Ballonkorb doch etwas zu eng. Meine drei Strahlungsapparate wurden wie gewöhnlich am Korbrande an kleinen, mit Stellschrauben versehenen Konsolen montiert. An Ballast nahmen wir 52 Sack mit (etwa 800 kg). Ein Teil der Säcke war so gehängt, dass ihre Entleerung durch Abschneiden eines Bindfadens bewirkt werden konnte, was in grösseren Höhen zur Vermeidung jeder körperlichen Anstrengung wichtig ist. Nach Abgabe von zehn Sack Ballast waren wir in 1500 m Höhe. Kurz vorher begann ich mit meinen Beobachtungen. Unsere Fahrtrichtung war bisher westlich, dann aber nördlich, so dass wir um 7.30 Uhr die deutsche Grenze bei Peterswalde übersetzten. Um 8 Uhr schwebten wir über Struppen bei Pirna mit prächtiger Aussicht auf die Festung

Route des Entdeckungsfluges der kosmischen Strahlung.

Hess bei Ballonlandung (1912).

Königsstein und die sächsische Schweiz. Um 8.30 Uhr waren 3000 m erreicht - nach Verbrauch von 20 Sack Ballast. Als ich bis 3500 m genügend Messungen gemacht hatte, trieben wir den Ballon wieder rascher aufwärts. Um 9.15 Uhr wurden 4000 m erreicht; wir standen über Elstra im östlichen Sachsen. Da ich mich etwas müde zu fühlen begann, griff ich schon zum Sauerstoffinhalationsapparat, um mich für die immerhin anstrengenden Ablesungen munter zu erhalten. Die Kälte war auch schon merklich. In 4200 m massen wir 8 1/2 Grad unter Null, was umso fühlbarer war, als die Sonne durch einen dünnen Wolkenschleier, der in enormer Höhe schwebte, nur sehr geschwächt durchschimrnerte. In 4800 m begann auch Herr Wolf mit der Sauerstoffatmung, die sowohl bei ihm wie bei mir sehr belebend wirkte und die hohe Pulsfrequenz herabminderte. Um 10.45 Uhr hatten wir 5350 m erreicht. Trotz Sauerstoff fühlte ich mich so schwach, dass ich nur noch mit Anstrengung an zwei Apparaten die Ablesungen ausführen konnte, die dritte Ablesung misslang. So entschloss ich mich, obwohl wir noch zwölf Sack Ballast hatten, herunterzugehen, und bat Hauptmann Hoffory, Ventil zu ziehen. Bei dem Abstiege fühlten wir uns noch recht matt bis 4000 m, dann aber erholten wir uns überraschend schnell. Hauptman Hoffory hatte die Höhe von 5350 m ohne Sauerstoffatrnung ausgehalten. Bei mir hatte wohl die vorausgegangene ungenügende Nachtruhe (ich war um 1/2 4 Uhr aufgestanden) und eine Magenindisposition die Widerstandskraft gegen die Höhenkrankheit so sehr vermindert.

Wir liessen den Ballon, der mehrmals von selbst zu fallen aufhörte, durch mehrfaches Ventilziehen bis zirka 1 000 m herabgehen, dann orientierten wir uns über die Terrain- und Windverhältnisse und landeten bei schwachem Bodenwinde sehr glatt um 12.15 Uhr mittags auf einer sandigen Wiese bei Pieskow (Brandenburg), etwa 50 km östlich von Berlin. Nachdem uns ein Gutsbesitzer in freundlicher Weise Landungshilfe zur Verfügung gestellt und uns gastfreundlich aufgenommen hatte, fuhren wir gegen 4 Uhr nach Berlin, von wo wir mit dem Nachtschnellzuge nach Wien zurückkehrten.

Mit dem wissenschaftlichen Ergebnis dieser Fahrt konnte ich sehr zufrieden sein; es war mir gelungen, mit drei Apparaten unabhängig den Verlauf der durchdringenden Strahlung bis über 5000 m zu verfolgen. Nachdem ich schon bei den acht vorhergehenden, von Wien aus unternommenen Fahrten gefunden hatte, dass die Gesamtstrahlung in Höhen von 1000 bis 2000 m ebenso gross ist wie am Boden, also grösser als in 500 und 1 000 m ist, ergab sich in den Höhen von 2000 m aufwärts eine noch viel auffallendere Steigerung der Gamma-Strahlung mit der Höhe. In 4000 m war die Gamma-Strahlung schon um die Hälfte stärker als am Boden, im 5000 m mehr als doppelt so stark. Das war ein Ergebnis, welches vollkommen neue Gesichtspunkte schuf: es war der Beweis erbracht, dass in 5000 m Höhe eine viel stärkere Gamma-Strahlung wirkt als auf der Erde.

Die Strahlung der Erde ist in diesen Höhen längst unwirksam. Wenn man an der Ansicht festhält, dass nur die bekannten radioaktiven Produkte in der Atmosphäre eine Gamma-Strahlung erregen, so müsste man zur Erklärung der von mir beobachteten Strahlungserhöhung in 5000 m annehmen, dass zufällig gerade in dieser Höhe eine lokale Anhäufung radioaktiver Materie stattgefunden habe. Dies ist aber so unwahrscheinlich, dass man eher der Ansicht zuneigen wird, dass ein Teil der beobachteten Gamma-Strahlung von oben her in die Atmosphäre eindringt - also ausserterrestrischen Ursprunges ist. Dass ein Teil der Gamma-Strahlung von der Sonne kommt, ist unwahrscheinlich, da ich bei den von Wien aus unternommenen Fahrten in der Nacht und während der Sonnenfinsternis am 17. April 1912 keine Verminderung der Gamma-Strahlung fand".

Eine volle Bestätigung der Hess'schen Messungen brachten die Hochflüge Kolhörster's 1913/14. Bis 5000 m stimmten die lonisationswerte mit den von Hess gemessenen überein, dann folgte ein rapider Anstieg, bei 9000 m war die Ionisation auf das etwa vierzigfache des Bodenwertes gestiegen. Der für die durchdringende Strahlung berechnete Absorptionskoeffizient war etwa zehnmal kleiner als der der RaC Gamma-Strahlung.

Hess' Entdeckung fand zunächst nur in einem engen Kreis Beachtung. Die Zeit war für sie noch nicht reif. Ihre große Bedeutung für die Entwicklung der Physik konnte damals weder von Hess noch von seinen Zeitgenossen erkannt werden. Niemand hätte zu dieser Zeit auch nur geahnt, daß die weitere Erforschung der "durchdringenden Strahlung" zur Hochenergie- und Elementarteilchenphysik führen würde. So ist es auch verständlich, daß Hess erst ein Vierteljahrhundert später, 1936, den Nobelpreis erhielt.

Hess vor dem Hafelekar-Labor am Tage nachdem er die Mitteilung von der Zuerkennung des Nobelpreises erhalten hatte (November 1936).

Es war naheliegend, die weiteren Studien der Strahlung in möglichst großen Höhen auszufahren. So richtete Hess im Herbst 1913 eine Dauerbeobachtung auf dem Obir (2044 m) in Kärnten ein, um zu untersuchen, ob die Strahlung Schwankungen unterworfen ist und welcher Art diese sind. Der Beginn des ersten Weltkrieges setzte aber den Arbeiten ein Ende, und die Strahlung geriet fast in Vergessenheit.

Erst durch Nernst's Buch "Das Weltgebäude im Lichte der neueren Forschung" (Berlin, 1921), in dem er die Idee aussprach, die durchdringende Strahlung könnte in gewissen Sterntypen beim Zerfall transuranischer Kerne emittiert werden, wurde das Interesse an der Strahlung neu erweckt. Gleichzeitig wurden aber auch Bedenken an ihrer Existenz geäußert. Man argwöhnte, an der Ballonhülle hätten sich radioaktive Stoffe angelagert, ein radioaktives Gas oder radioaktive Zerfallsprodukte hätten sich in der Tropopause angesammelt, auch eine Auslösung der Strahlung in den höchsten Schichten durch solare Elektronen wurde erwogen - alles Einwände, die entkräftet werden konnten. Behounek und G. Hoffmann zweifelten auf Grund von Absorptionsmessungen, Millikan und Mitarbeiter auf Grund von Registrierballonaufstiegen bis 15 km an der Existenz einer Strahlung angegebener Eigenschaften. Weitere Versuche veranlaßten jedoch die Genannten, ihre Ansichten zu revidieren. Im Zuge der damit verbundenen Auseinandersetzungen (Bergwitz et al, 1928) ergaben sich auch Prioritätsstreitigkeiten, die erst 1932 durch die Zuerkennung des Abbe-Preises und 1936 des Nobelpreises, den Hess gemeinsam mit C.D. Anderson erhalten hatte, beendet wurden. Spät kam es auch zu einer endgültigen Namensgebung der Strahlung. Von einigen Autoren war "Hess' sche Strahlung", in den USA auch "Millikan-Strahlung" vorgeschlagen worden, Hess schlug 1926 "Ultragammastrahlung" vor. Später, nachdem ihre Teilchennatur erkannt war, "Ultrastrahlung", auch "Kosmische Ultrastrahlung", und etwa 1940 schloss Hess sich dem von Millikan stammenden Namen "Kosmische Strahlung" an. Im deutschen Sprachraum wird auch oft der von Kolhörster stammende, von Hess aber abgelehnte Name "Höhenstrahlung" verwendet.

Nachdem die Existenz der Strahlung, die man bis zur Entdeckung ihrer Teilchennatur durch Bothe und Kolhörster (1929) für eine ultraharte Gammastrahlung gehalten hatte, nun gesichert war, begann man, nach ihrem Ursprung zu suchen. Angeregt durch Nernst's Idee, setzte eine Suche nach Intensitätsmaxima ein, die der Kulmination gewisser Himmelsbereiche entsprechen könnten. So wurde unter anderem in Gletscherspalten auf dem Jungfraujoch, auf dem Mönchsgipfel (Kolhörster und Salis), auf der Zugspitze (Büttner) in mehrtägigen Meßreihen nach einer Sternzeitperiode gesucht. Die dabei gefundenen Anzeichen für eine solche konnten jedoch von anderen (Hoffmann, Steinke, Millikan u.a.) nicht bestätigt werden.

Hier trat nun Hess, inzwischen als Ordinarius an die Grazer Universität berufen, wieder auf den Plan. Mit Unterstützung verschiedener Institutionen konnte er mehrere Strahlungsmeßapparate vom verbesserten Kolhörster'schen Typ (4,3 1, Zweischlingenelektrometer) sowie Panzermaterial anschaffen. Nach Vorversuchen in Graz, im Innsbrucker Mittelgebirge und auf dem Patscherkofel organisierte er 1927 eine einmonatige Registrierung auf dem Sonnblick (3100 m, in den Hohen Tauern) mit O. Mathias als Beobachter.

Dies war die Zeit, als der Verfasser in Hess' Institut eintrat. Da die Registrierungen auf dem Sonnblick nur unregelmäßige, den mittleren Fehler kaum übersteigende Strahlungsschwankungen gezeigt hatten, entschloß sich Hess, auf dem Sonnblick-Observatorium eine ganzjährige Registrierung mit drei parallel laufenden Apparaten nach einer verbesserten Methode einzurichten. Der Verfasser wurde beauftragt, mit A. Reitz mehrere Wochen lang rund um die Uhr die Strahlung zu registrieren und den Beobachter am Observatorium für die Fortsetzung der Beobachtungen einzuschulen. Der Restgang der Apparate war vorher in einer Kalksteinhöhle nördlich von Graz unter 70 m Gestein hinter 7 cm Eisen bestimmt worden.

Beobachtungen im Hochgebirge waren zu jener Zeit, da es noch keine Autostraßen in die Hochtäler und keine Bergbahnen gab, mit erheblichen Mühen verbunden. Ein Bild davon gibt der nachfolgende (gekürzte Bericht des Verfassers (Steinmaurer, 1930)):

"Mein Kollege, Herr A. Reitz, und ich traten am 29. Juni 1929 die Reise auf den Sonnblick an. Wir wählten, wie alle wissenschaftlichen Expeditionen, des schweren Gepäcks halber den Weg über Taxenbach, Rauris, Kolm - Saigurn. Unser Gepäck wog etwa 200 kg und bestand aus den drei Strahlungsapparaten, die wir auf der Eisenbahn im Abteil mitführten, einer großen Kiste, welche die Registrieruhr enthielt, einem Reisekorb, in dem die drei Registrierapparate, ein Akkumulator und verschiedene Reserveteile verpackt waren, ferner eine Kiste mit Anodenbatterien, dem Ausmeßtisch und nicht an letzter Stelle einer Kiste mit Konserven, Keks, Marmelade, Zwieback usw., Dingen, die es uns gestatten sollten, dem dräuend unbekannten Speisezettel der nächsten Wochen gegenüber ein wenig unsere Selbständigkeit zu bewahren.

Der etwa 400 kg schwere Eisenpanzer - weitere 320 kg Panzermaterial waren noch von Dr. Mathias' Beobachtungen her auf dem Observatorium verblieben - war bereits im Laufe des Juni auf den Sonnlick geschafft worden. Zum Transport des Materials von Taxenbach nach Kolm-Saigurn wurde ein Pferdefuhrwerk gemietet, die 1500 m von dort zum Observatorium mußten von Trägern - jeder trug eine Last von 40 bis 60 kg - bewältigt werden. Diese Transporte waren natürlich mit hohen Kosten verbunden, obgleich die Trägerlöhne gegenüber 1927 um 20% erniedrigt waren, machten die Transportkosten allein über 25% der gesamten Expeditionskosten aus.

Der Aufstieg war herrlich. Sonne über einigen Zentimetern Neuschnee! Auf dem Gipfel eine Fernsicht vom Traunstein bis zu den Dolomiten! Das Gepäck war glücklich angelangt, nur einer der Strahlungsapparate hatte dem inneren Überdruck nicht standgehalten und war ausgelaufen. Das bedeutete aber keinen großen Schaden, denn durch Anbringung einer Korrektur können die Messungen auf Normaldruck reduziert werden ...

Die Apparate wurden auf Betonsockeln in der sogenannten Pendelhütte aufgestellt, in der 1911 gravimetrische Messungen ausgeführt worden waren. Am 3. Juli war die Aufstellung beendet. Da die Apparate alle vier Stunden neuer Aufladung bedurften, hatten wir einen Tag- und Nachtdienst eingerichtet. Der "Tagdienst" mußte die Apparate zwischen 3 und 4 Uhr früh zum erstenmal und dann bis 20 Uhr nach Ablauf von je vier Stunden laden und überprüfen. Der "Nachtdienst" wechselte um Mitternacht die Registrierstreifen und unterzog die Apparatur einer Generalrevision ..."

Auch diese Beobachtungen brachten keine Bestätigung einer Sternzeitperiode, auch nicht nach Eliminierung des den Schwankungen überlagerten Luftdruck-Einflusses durch Reduktion aller Meßwerte auf Normaldruck. Doch wurden Andeutungen eines Tagesganges und ausgeprägte jahreszeitliche Schwankungen festgestellt. Hess entschloß sich daher, die Messungen fortzusetzen und zwar im Hinblick auf die Kleinheit der Schwankungen mit einer Apparatur höchster Präzision, ähnlich der von Hoffmann gebauten. Für die Aufstellung einer solchen viel größeren und schwereren Apparatur war der Sonnblick wegen seiner schweren Zugänglichkeit ungeeignet. Günstiger erschien die leichter erreichbare Zugspitze (2963 m). Doch die Wahl fiel auf das Hafelekar bei Innsbruck, das von der Universität mit der Seilbahn in weniger als einer Stunde erreichbar ist. Das österreichische Bundesministerium für Unterricht hatte an der Universität Innsbruck ein "Institut für Strahlenforschung" errichtet, an das Hess als Vorstand berufen wurde.

So übersiedelte Hess 1931 nach Innsbruck. Das Innsbrucker Institut war sehr bescheiden. Es bestand aus drei Zimmern, jegliche apparative Grundausstattung fehlte, und außer einem Assistenten (der Verfasser), einem wissenschaftlichen Mitarbeiter (J.Priebsch) und einem an zwei Tagen der Woche zur Verfügung stehenden Mechaniker war kein Personal vorhanden. Die Kolhörster'schen Strahlungsapparate mit Panzermaterial, einige Geräte für luftelektrische Messungen hatte Hess aus Graz mitnehmen können.

Hess kam mit großen Plänen. Sein Wunsch war die Errichtung eines Gebäudes auf dem Hafelekar, das außer der "Station für Ultrastrahlenforschung" auch einem meteorologischen Observatorium, einer kleinen Sternwarte und einem Labor für alpine Forschungsarbeiten Raum geboten hätte. Da aber die Mittel nicht reichten, wurde im "Unterkunftshaus Hafelekar" ein 3 mal 4,5 m2 großes Zimmer als Labor eingerichtet. Elektrischer Strom war vorhanden, Wasser mußte im Winter von der Bergstation der Seilbahn geholt werden.

Die "Station für Ultrastrahlenforschung" auf dem Hafelekar bei Innsbruck (2300 m), 1960, vor dem späteren Ausbau.

Durch die finanzielle Hilfe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Preussischen Akademie der Wissenschaften, der österreichisch-deutschen Wissenschaftshilfe und des Sonnblick-Vereines war es Hess möglich, eine von E. Steinke, einem Mitarbeiter G. Hoffmann's, konstruierte "Steinke Standard-Apparatur" zu beschaffen. Diese bestand aus einer 22,6 l fassenden, mit 10 bar CO2 gefüllten Ionisationskammer, die nach der Auflademethode mit Ladungskompensation über einen Influenzierungskondensator arbeitete. Registriert wurden stündlich die Ausschläge eines Lindemann-Elektrometers. Die Apparatur lief fünf Tage wartungsfrei. Gegen die Umgebungsstrahlung schützte ein 1,5 t schwerer, allseitig 10 cm starker Bleipanzer ("Vollpanzer"), der oben geöffnet werden konnte ("Halbpanzer").

Schon 1913 hatte Hess die Idee von Simultanbeobachtungen mit gleichartigen Apparaten geäußert. Bei einer Zusammenkunft mit A. Corlin, W. Kolhörster und E. Steinke in Berlin im Dezember 1930 kam er darauf zurück. Durch die Entdeckung der Teilchennatur der Strahlung waren auch Beobachtungen in verschiedenen geographischen Breiten aktuell geworden, Steinke erklärte sich bereit, mehrere Exemplare seiner Standard-Apparatur herstellen zu lassen. In Aussicht genommen waren Stationen in Äbisko (Corlin), Königsberg (Steinke), Dublin (Nolan u. O'Brolchain), Hafelekar (Hess), Bandung (Clay), und Kapstadt (Schonland).

Im Juli 1931 wurden die ersten Apparate von Corlin, O'Brolchain und dem Verfasser in Königsberg übermommen. Ende August begannen die Registrierungen auf dem Hafelekar.

Einer der ersten Besucher war A. Piccard, wenige Wochen nach der Landung auf dem Gurgler Ferner, nach seinem ersten Stratosphärenflug. Er ließ seinen bei dem Stratosphärenflug benutzten Strahlungsapparat durch seinen Mitarbeiter Kipfer mit den Hess'schen Apparaten vergleichen. Auch andere prominente Wissenschaftler haben sich irn Gästebuch der Station eingetragen.

Das Hauptergebnis der Registrierungen mit den Steinke-Apparaten in den ersten Jahren war der Nachweis der Existenz einer regelmäßigen täglichen Schwankung nach Ortszeit (Hess et al., 1934, Hess u. Graziadei, 1936), die bei den Vollpanzer- und Halbpanzermessungen konform auftritt. Nach rechnerischen Eliminierung des Einflusses der unperiodischen Schwankungen sowie der Tagesperiode des Luftdruckes auf die Meßwerte ergab sich in beiden Jahren ein Maximum der Strahlung zur Mittagsstunde, ein Minimum zwischen 21 Uhr und 3 Uhr. Ob der Mittagsanstieg, so wie von Hess früher angenommen, durch eine solare Komponente der Strahlung oder durch indirekten Einfluß der Sonne erzeugt ist, wird offen gelassen. Außer dem täglichen Gang werden auch unregelmäßige, sich über Tage erstreckende Schwankungen ("Schwankungen zweiter Art") ebenso bestätigt wie plötzliche kurzzeitige Anstiege der Ionisation, die sogenannten "Hoffmann'schen Stöße."

Three pioneers of Cosmic Ray research von links nach rechts: Hess, Steinke, E. Regener. Regener demonstriert sein Ballonelektrometer (Immenstaad/Bodensee, August 1932).

Im Jahre 1933 konnte Hess durch eine Widmug der Rockefeller Foundation seine Forschungsstation erweitern. Drei Räume des Unterkunftshauses wurden in das Labor einbezogen und zwei weitere "Steinke-Standardapparate" angeschafft. Nun konnten zwei Apparate auf dem Hafelekar parallel laufen, einer im Voll-, der andere im Halbpanzer, während ein dritter in Innsbruck betrieben wurde.

Hess' Absicht war, die zeitlichen Variationen der Strahlung dauernd zu verfolgen, das gewonnene umfangreiche Beobachtungsmaterial in Bezug auf periodische Schwankungen nach Orts- und Sternzeit zu analysieren und vorhandene unperiodische Schwankungen auf einen Zusammenhang mit Änderungen der Außentemperatur, des erdmagnetischen Feldes und der Aktivität der Sonne zu untersuchen. Von den Ergebnissen der Arbeiten der Jahre 1934 bis 37 sei kurz folgendes mitgeteilt:

Die Einflüsse des Luftdruckes und der Außentemperatur ("Luftdruck- und Temperatureffekt") wurden von Priebsch (Priebsch u. Baldauf, 1936) nach der Methode der multiplen Korrelation berechnet. Gegenüber Luftdruck und Temperatur verläuft die Strahlung antiparallel. Die gefundene negative Temperaturabhängigkeit wurde zu deuten versucht als Folge der Änderung der Luftdichte und damit der Streubedingungen. Die korrekte Erklärung konnte damals nicht gegeben werden, da die Entstehung der Muonenkomponente noch unbekannt war.

Auch nach Berücksichtigung der Einflüsse von Luftdruck und Außentemperatur verblieb ein täglicher Gang nach Ortszeit mit einem Mittagsmaximum. Als Ursache des Tagesganges wurde eine Beeinflussung der Strahlung in den höchsten Schichten angenommen, wobei auch auf den antiparallelen Gang mit der Horizontalintensität des erdmagnetischen Feldes hingewiesen wurde. Auch für den Tagesgang konnte die richtige Erklärung noch nicht gegeben werden.

Ein regelmäßiger Gang nach Sternzeit wurde nicht gefunden. Nur ein Maximum um 20.40 Uhr war in den Meßreihen angedeutet, das nach Compton' und Getting's Berechnung, durch die Rotation der Milchstraße hervorgerufen, ein Hinweis für einen extragalaktischen Ursprung der Strahlung wäre.

Bei der Suche nach einem Zusammenhang zwischen Strahlung und Sonnenaktivität konnte eine 27,2 tägige Periode nachgewiesen werden, entsprechend der Umdrehungsdauer der Sonnenfleckenzone (Graziadei, 1936).

Die Variationen des erdmagnetischen Feldes und der Strahlung zeigten teils parallelen, teils antiparallelen Verlauf, letzteren vor allem in den Tages- und Jahresgängen. Ein ausgeprägter Parallellauf wurde bei magnetischen Stürmen gefunden, worauf schon Forbush verwiesen hatte. Bei den Stürmen Ende April 1937 und am 25-26. Jänner 1938 wurde dieser Effekt weltweit beobachtet (Hess etal, 1938). Mitte der Dreißigerjahre erlaubten es die Mittel, auch Zählrohr und Nebelkammer einzusetzen. Nach Einschulung bei Regener in Stuttgart konnte Priebsch (Priebsch, 1936) eine Dauerregistrierung der Zahl der stündlichen Dreieckskoinzidenzen mit einem selbstgebauten Apparat beginnen, wobei sich im allgemeinen ein guter Gleichlauf mit den lonisationskammern ergab. Daneben wurden Sekundäreffekte der Strahlung studiert, so die Rossi-Kurve bis 36 cm Blei aufgenommen.

Über Einladung von Hess führte im Sommer 1934 F. Rieder (Wien) Versuche mit einer Nebelkammer durch. Es war eine kleine, von Hand zu bedienende Kammer nach Philipp und Dörffel von 12 cm Durchmesser. Umgebende Spulen erzeugten ein Magnetfeld von 1500 Gauss. Mit einer "Contax"-Kamera wurden die Spuren fotographiert. Bei einem Teil der Versuche lag quer durch die Kammer ein Bleistreifen. Gefunden wurden Elektronen, Schauer und einige schwere Teilchen. Eine Statistik über Ladungssinn und Energie wurde erstellt.

Auch mit Kernspurplatten wurde zu dieser Zeit experimentiert. Die beiden Wiener Physikerinnen M. Blau und H. Wambacher (Blau u.Wambacher, 1937) sandten Platten, die unter verschiedenen Bedingungen mehrere Wochen auf dem Hafelekar exportiert wurden. Die dann in Wien entwickelten und durchmusterten Aufnahmen brachten eine Überraschung. Es wurden zwei Gruppen von Bahnspuren gefunden: Neben langen Spuren, die man Protonen von bisher nie beobachteter Energie zuordnen konnte, wurden kurze Spuren entdeckt, die von einem Zentrum sternförmig ausgingen. Verfasser erinnert sich noch, wie Frau Blau, 1937 auf Sommeraufenthalt in Tirol, zu ihm vor der Talstation der Innsbrucker Hungerburgbahn sagte: "Eben hat mir Frau Wambacher aus Wien geschrieben, sie habe auf den Platten, die am Hafelekar exportiert waren, merkwürdige, sternförmige Teilchenbahnen gefunden, die bestimmt nicht von radioaktiven Verunreinigungen herrühren können." Dies war der erste Nachweis eines Zertrümmerungssterns.

 

Auf Kernemulsionsplatten, die einige Wochen in 2300 m Hohe (Hafelekar) gelagert waren, fand Hertha Wambacher (Wien) 1937 sternartige Teilchenbahnen, die als Spuren einer Kernzertrümmerung durch die kosmischen Strahlung gedeutet wurden.

Von all den Untersuchungen, die in den Dreißigejahren im Hafelekar-Labor ausgeführt wurden, seien ferner die Versuche über die biologischen Wirkungen der Strahlung hervorgehoben. Sie wurden vom Schweizer Arzt J. Eugster als Gast an Taufliegen, Kaninchen, Bakterien und Samen ausgeführt. Die Ergebnisse sind in dem Buch von Eugster-Hess "Die Weltraumstrahlung und ihre biologische Wirkung" (Zürich, 1940) niedergelegt.

Weiters wurden auf Hess' Anregung auf dem Hafelekar Zählungen der Groß- und Kleinionen, der Staub- und Kondensationskerne, des Emanationsgehaltes der Freiluft, stets im Vergleich mit Messungen in Innsbruck, sowie eine Registrierung des luftelektrischen Potentialgefälles ausgeführt.

Hess verließ Innsbruck im Mai 1937 und übernahm als Nachfolger H. Benndorfs das Grazer Physikalische Institut. Das Hafelekar-Labor, vor allem die Registrierung der Strahlungsintensität, wurde vom Verfasser weitergeführt.

Zum Schluß noch eine kurze Würdigung der Persönlichkeit Hess'. Victor Franz Hess wurde am 24. Juni 1883 in Waldstein geboren, einem kleinen Ort nördlich von Graz (Österreich). Nach seiner Promotion "Sub auspiciis Imperatoris" 1906 hatte er die Absicht, bei Drude in Berlin ein Thema aus dem Gebiet der Optik zu bearbeiten. Ein Ausbildungsstipendium war ihm bereits bewilligt. Aber Drude's plötzlicher Tod vereitelte diesen Plan. So entschloß sich Hess, sich in Wien weiterzubilden, wo er, zuerst am 2. Physikalischen Institut, dann am neugegründeten Institut für Radiumforschung, luftelektrische und radioaktive Studien betrieb, in deren Verfolgung er die Kosmische Strahlung entdeckte. In seiner Selbstbiographie bezeichnet er die Zeit am Radiuminstitut als die glücklichste seines Lebens. Dem Wiener Physikerkreis gehörten damals neben Benndorf, Kohlrausch, Hasenöhrl, Pribram, Schweidler auch die nochmaligen Nobelpreisträger Hevesy, Paneth, Schrödinger an. Im ersten Welt-Krieg war Hess Leiter der Röntgenabteilung eines Reservelazarettes. Daneben führte er mit R.W. Lawson, einem Engländer, der in Wien vom Kriegsausbruch überrascht worden war, eine international anerkannte Präzisionsbestimmung der Zahl der von 1 Gramm Radium sekundlich ausgesandten Alphateilchen aus und wendete als erster die Rutherford-Geiger'sche Zählkammer auf die Zählung von Gammastrahlen an.

1920 wurde Hess an die Universität Graz berufen. Fast gleichzeitig erhielt er eine Berufung als Chefphysiker der Radium Corporation in Orange N.Y. und als "Consulting Physicist" im US Bureau of Mines im Ministerium des Inneren. Arbeiten über medizinische Anwendungen des Radiums und Methoden zur Bestimmung des Radiumgehaltes von Erzen und zur Reinigung der Radiumemanation stammen aus dieser Zeit.

Nach zwei Jahren kehrte Hess nach Graz zurück. Da ihm aber dort keine Radiumpräparate und nur sehr beschränkte Mittel zur Verfügung standen (sein Labor bestand aus zwei Zimmern, er hatte weder einen eigenen Assistenten noch einen eigenen Mechaniker), setzte er seine in Wien begonnenen, wenig apparativen Aufwand erfordernden luftelektrischen Arbeiten fort und war literarisch tätig. Das Buch "Die elektrische Leitfähigkeit der Atmosphäre und ihre Ursachen" (Vieweg, 1926) und die Monographie "lonisierungsbilanz der Atmosphäre" (in Ergebnisse der Kosmischen Physik, 2 (1934)) einstanden in dieser Zeit.

1931 wurde Hess an die Universität Innsbruck berufen. Besonders während der ersten Jahre fühlte er sich in Innsbruck sehr wohl. Sein Werk gedieh und fand Anerkennung. Getrübt wurden die Innsbrucker Jahre durch zwei Operationen, die sich als Folge einer noch in Wien erlittenen Radiumverbrennung als notwendig erwiesen hatten: die Amputation des linken Daumens und eine Kehlkopfoperation, von der eine ständige Heiserkeit zurückblieb. Seiner neuen Tätigkeit an der Grazer Universität, an die er im Frühjahr 1937 berufen wurde, konnte er sich nur ein Jahr lang widmen. Bald nach der Besetzung Österreichs durch das nationalsozialistische Deutschland wurde Hess zuerst in den Ruhestand versetzt und im September 1938 fristlos ohne Pension aus politischen Gründen entlassen und gezwungen, den Nobelpreis, den er in Schweden investiert hatte, einzuberufen und gegen deutsche Reichsschatzscheine umzutauschen. Als kosmopolitisch denkender Wissenschaftler und aktiver Katholik hatte Hess aus seiner Ablehnung des Nationalsozialismus nie ein Hehl gemacht. Er emigrierte nach den USA, wo er sogleich an der Fordham Universität in New York ein neues Betätigungsfeld fand.

Persönlich war Hess von großer Liebenswürdigkeit, Konzilianz und Aufgeschlossenheit, durchaus nicht der Typus eines unnahbaren "Olympiers", wenngleich er auch eine gewisse Respektierung wünschte. Seine Gattin schuf ihm jene Atmosphäre, die er für seine wissenschaftliche Arbeit, in der er ganz aufging, benötigte. Er war ein fleißiger, flinker, ordnungsliebender, stetiger Arbeiter. Stress wußte er zu vermeiden. Seiner Arbeit zuliebe verzichtete er auf regen gesellschaftlichen Verkehr, auch Hobby pflegte er keines. Sein ständiger Begleiter, auch im Institut, war ein brauner Dackel. Hess war von kräftiger, voller Statur, aber kein Alpinist oder Schisportler, doch ein großer Naturfreund und Bewunderer der Tiroler Bergwelt. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit widmete er sich mit der ihm eigenen Gründlichkeit auch der Lehre, nach dem Grundsatz, daß Lehre und Forschung Hand in Hand gehen müßten. Obgleich ein strenger, aber gerechter Prüfer, war er bei den Studenten beliebt. Seine besondere Fürsorge galt den Dissertanten und seinen Mitarbeitern, zu denen er ein fast väterliches Verhältnis hatte. Er stellte hohe Anforderungen, ging aber selbst mit gutem Beispiel voran. Leistungen wurden gewürdigt und durch Förderung belohnt. Mit Tadel war er sparsam, heftig wurde er nie. Mit Fachkollegen pflegte er regen Kontakt, über divergierende Ansichten wurde sachlich diskutiert.

Die Entlassung im Jahre 1938 traf Hess sehr schwer. Nach Kriegsende kam er noch einige Male nach Österreich, besuchte sein Hafelekar-Labor, aber zur Annahme des Angebotes, auf seine alte Lehrkanzel zurückzukehren, konnte er sich nicht entschließen. Hess starb am 17 Dezember 1964 in New York.

V.F. Hess, 1960.

Auf dem Tisch ein Strahlungsapparat (nach Kolhörster), wie er in der Zeit von 1927 bis 1931 von Hess u. Mitarbeitern in Graz, auf dem Sonnblick und in Innsbruck verwendet wurde. Daneben eine Zarnboni-Säule zur Aufladung des Elektrometer-Systems.


Der Verfasser dankt Herrn Prof. F. Fliri für die Ausarbeitung der Flugroute Prof. Hess', Herrn Prof. J. Priebsch für Beratung und Durchsicht des Manuskripts, sowie Herrn Prof. D. Burkert für Überlassung von Lichtbildern.

REFERENZEN

 

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